Edward Gibson (2012)
Cambridge: Cambridge University Press, 202 S.
Rezensiert von Constantin Groll
Lateinamerika-Institut, Freie Universität Berlin
Die jüngsten Proteste in Brasilien und Chile zeigen die
Unzufriedenheit breiter Bevölkerungsteile mit den politischen
Systemen ihrer Länder und wecken gleichzeitig bei einigen
Beobachtern die Hoffnung auf ein erstarktes demokratisches
Bewusstsein und erweiterte Möglichkeiten der politischen
Partizipation. Gleichwohl sind viele lateinamerikanische Staaten,
besonders auf lokaler und regionaler Ebene, trotz der Existenz
prozeduraler Wahlstandards weit von dem demokratischen Versprechen
einer gleichwertigen politischen Beteiligung entfernt und
autokratisch regierte Enklaven bestehen weiterhin fort. Die
Hoffnung, dass diese mit der Zeit von allein verschwinden, indem
die demokratischen Systeme in Lateinamerika langsam „erwachsen“
werden, muss spätestens nach der Lektüre des Buches von Edward
Gibson, Politikwissenschaftler an der Northwestern University
(USA), zumindest in Bezug auf Föderalstaaten überdacht werden.
Subnationale autokratische Regime, so Gibsons Hauptthese, sind
innerhalb demokratischer Föderalstaaten das Produkt des
strategischen und institutionellen Handelns lokaler Regierungen
und erweisen sich als erstaunlich persistent. Obwohl die
Souveränität subnationaler Autokraten durch die nationalstaatliche
Einbettung nie vollkommen ist und diese deshalb neben der
Opposition von „Unten“ auch mit Widerstand von „Oben“ rechnen
müssen, kann es ihnen, abhängig von ihrer institutionellen
Autonomie gelingen, die „Grenzen“ (daher der Buchtitel) zu den
subnationalen politischen Arenen zu schließen und ihre Herrschaft
zu festigen. Gleichwohl ist diese These kaum neu. So stellt das
Buch, das mit dem Anspruch antritt, die „Fixierung auf die Nation“1 in der Demokratieforschung zu überwinden,
das Ergebnis einer seit mehr als einem Jahrzehnt geführten Debatte
über das Phänomen subnationaler autokratischer Regime in
demokratischen Föderalstaaten dar, auf die der Autor maßgeblich
eingewirkt hat.
Gibson wählt für seine komparativ-historisch angelegte
Untersuchung nicht grundlos den Aufstieg und Fall subnationaler
autokratischer Regierungen in je drei Föderalstaaten: Den „Solid
South“ in den Vereinigten Staaten nach dem Bürgerkrieg im 19.
Jhd., die Provinzregierungen in Santa Cruz, La Rioja, Santiago del
Estero und San Luis in Argentinien nach der Demokratisierung 1983
und den Bundesstaat Oaxaca in Mexico ab dem Jahr 2000. Vielmehr
analysiert er – und hier liegt das Innovative seines Ansatzes –
Bildung und Fortbestehen subnationaler Autokratien in Verbindung
mit der Ausgestaltung des Föderalismus in den Ländern. Basierend
auf klassischen Autoren der Humangeographie (Sack, Paddison)
argumentiert Gibson, dass subnationale Autokratien nur „überleben“
können, wenn diese nicht nur ihre Herrschaft in der subnationalen
Arena monopolisieren, sondern auch die Verbindungen zwischen der
subnationalen und nationalen politischen Arena kontrollieren und
an Einfluss auf relevante föderale Regierungsentscheidungen
gewinnen können (Kapitel 1). Dafür bemächtigen sie sich laut
Gibson dreier Strategien, die jeweils auf die subnationale Ebene
(lokale Beschränkung der Macht), die nationale Ebene (Ausweitung
ihres Einflusses im nationalen politischen System) und die
Verbindungen zwischen den Regierungseinheiten (Vereinnahmung der
Verbindungen zwischen Nation und ihrer Provinz) abzielen (24 f.).
Lediglich unter zwei Szenarien hält Gibson ein Aufbrechen der
Grenzen der subnationalen politischen Systeme und eine Transition
zur Demokratie für möglich (32): Durch eine direkte föderale
Intervention, womit der lokale politische Konflikt nationalisiert
wird und oftmals eine Absetzung der subnationalen Regierung und
eine Modifikation der subnationalen „Spielregeln“ verbunden ist.
Oder mittels eines erhöhten Parteiwettbewerbs innerhalb
bestehender subnationaler Regeln, die meist erst durch den
Einfluss und die Unterstützung nationaler Akteure erfolgt. Dabei
hat die Ausgestaltung des Föderalismus auf die möglichen Szenarien
einen entscheidenden Einfluss: So entwickelt Gibson in einem sehr
überzeugenden theoretischen Kapitel (Kapitel 1) die These, dass in
Provinzen mit hoher (politischer) Autonomie eine Intervention des
Zentrums wahrscheinlicher ist, während bei geringer Autonomie eine
Transition via eines verstärkten Parteienwettbewerbs eher zu
vermuten ist. Auch die Autonomie der Gemeinden kann eine
entscheidenden Rolle spielen: Hohe Autonomie wird subnationale
Autokraten dazu veranlassen, ihre Herrschaft über legale Mittel zu
sichern, während sie bei höherer Abhängigkeit auf illegale Mittel
zurückgreifen (32).
Diesen Strategien und Demokratisierungs- szenarien geht Gibson in
den drei empirischen Kapiteln mittels einer historischen
Institutionenanalyse Analyse, basierend auf Primär- und
Sekundärquellen nach. So beschreibt er den Versuch und das
letztliche Scheitern der US-amerikanischen Regierung, die
Partizipationsrechte für die afro-amerikanische Bevölkerung in den
südlichen Bundesstaaten nach dem Bürgerkrieg durchzusetzen. Darauf
folgt eine detaillierte Analyse des Aufbaus der autokratischen
Regierungen in den Südstaaten, vorangetrieben durch Änderungen der
Provinzverfassungen, des subnationalen Wahlrechts, sowie der
steigenden Bedeutung der Südstaaten auf der föderalen Ebene
(Kapitel 3). Auch in den Fallbeispielen in Argentinien ist es
subnationalen autokratischen Regimen dank der hohen Autonomie der
Bundesstaaten, der Abhängigkeit der Gemeinden und
Überrepräsentation der Provinzen auf der Bundesebene gelungen,
ihre Herrschaft mittels legaler Maßnahmen zu festigen. Und auch
nach föderalen Interventionen kam es oftmals nicht zu einer
Öffnung der autoritären Systeme, da keine Veränderungen der
formalen institutionellen Regeln erwirkt wurden (Kapitel 4).
Anders liegt dagegen der Fall des politischen Regimes in Oaxaca ab
dem Jahr 2000. Gibson zeigt, wie es der Partido Revolucionario
Institucional (PRI) trotz geringer bundesstaatlicher Autonomie
dank illegaler und informeller Praktiken gelang, das subnationale
politische System zu kontrollieren, ihren Einfluss auf der
föderalen Ebene auszuweiten und auch föderale
Interventionsversuche abzuwehren, wie die Partei schließlich
jedoch dem subnationalen politischen Wettbewerb nachgeben musste
(Kapitel 5).
Insgesamt besticht das Buch durch eine klare Argumentationslinie,
die empirisch kenntnisreich an den Fallbeispielen dargestellt
wird. Gibson vermag es, eine überzeugende Theorie mittlerer
Reichweite der subnationalen Demokratisierung zu entwickeln. Dabei
liegt die große Stärke seines Ansatzes in der Betonung der
Relevanz formeller und informeller Verbindungen zwischen den
Regierungs-ebenen in Föderalstaaten und der Verknüpfung der
Wirkungsmacht formal-föderaler Institutionen mit dem strategischen
Handeln politischer Akteure. Dieser Beitrag ist sicherlich auch
für weitere Fragestellungen mit Bezug auf Föderalstaaten unter
Abstrichen für die Analyse parlamentarischer Systeme nutzbar.
Allerdings ist Gibsons Demokratiedefinition kritisch zu
hinterfragen und offenbart die Grenzen der
politikwissenschaftlichen Institutionenanalyse. Zwar ermöglicht
die Definition eine relativ einfache Operationalisierung, da
lediglich die effektive Umsetzung des politischen Wettbewerbs und
der politischen Partizipation betrachtet wird (14), sie wird aber
einem weiteren oder gar normativen Anspruch an Demokratie kaum
gerecht. Auch verleitet dieses Demokratiekonzept Gibson zu der
impliziten Annahme, dass die Regierungen auf der nationalen Ebene
zwangsläufig den demokratischen Maßstab in den Ländern bildeten.
Dies muss allerdings angesichts des Forschungsstands über die
Funktions- weise der Föderalregierungen in Ländern wie Argentinien
oder Mexiko in Frage gestellt werden. Nichtsdestotrotz ist das
Buch auch für Praktiker und Einsteiger abseits der Demokratie- und
Föderalismus- debatte zu empfehlen. Es bietet eine kenntnisreiche
Erklärung, warum in Lateinamerika auf lokaler Ebene bis heute
demokratische Beteiligungsrechte effektiv beschnitten werden und
die Demokratie ohne sozialen und politischen Druck auf
subnationale Eliten auch in Zukunft flächendeckend nicht zu
erreichen ist.
1 „nation fixation“ (33)