Anne Huffschmid und Kathrin Wildner (eds.) (2013)
Bielefeld: transcript, 460 S.
Rezensiert von Frank Müller
desiguALdades.net, Freie Universität Berlin
Die Kulturwissenschaftlerin Anne Huffschmid und die
Stadtethnologin Kathrin Wildner legen mit Stadtforschung aus
Lateinamerika. Neue urbane Szenarien: Öffentlichkeit –
Territorialität – Imaginarios einen Sammelband vor, der
dieses interdisziplinäre Forschungsfeld transformieren wird. Diese
– durchaus gewagte – Prophezeiung gründe ich auf dem gleichermaßen
hohen wie erfüllten Anspruch der Herausgeberinnen, Konzepte,
empirische Befunde und Methoden aus der Lateinamerika-basierten
Stadtforschung zu übersetzen bzw. zu transnationalisieren.
Huffschmid und Wildner folgen damit Ananya Roys Aufruf, unsere
asymmetrische Wissensgeographie zwischen Theorie- generierenden
Städten des „globalen Nordens“ und Empirie-erzeugenden Städten des
„globalen Südens“ zu überwinden (Roy 2009). Übersetzung sei damit
nicht nur als Übertragung aus dem Spanischen und Portugiesischen,
sondern als interkultureller Akt der Dezentrierung verstanden.
Stadtforscher_innen weltweit können von diesem heterogenen und
interdisziplinären Feld der Metropolenforschung lernen, so die
These. Einleitend markieren Huffschmid und Wildner drei, die
Buchbeiträge verbindende „konzeptuelle Zugänge“ (18):
Territorialität, imaginario und Öffentlichkeit. Um dem
Informellen, dem schnellen Wachstum und dem Konflikthaften
lateinamerikanischer Metropolen gerecht zu werden, fungieren die
drei Konzepte nicht im Sinne universaler Vergleichsgrößen, sondern
als multi- perspektivisch elaborierte Schlüssel. Das im Buchtitel
angekündigte „Neue“ der Szenarien deutet nicht allein auf
Aktualität oder Innovativität von Themen wie ciudadanía, gated
communities, Straßenkunst, Angst oder Straßenhandel. Neu ist
vielmehr der Anspruch, transnationale und -lokale Debatten und
Perspektivwechsel anzuregen.
Die einzelnen Beiträge verbindet entsprechend ein gemeinsames
Interesse: die Stadt wird als Raum analysiert, der von einer
heterogenen und konfliktiven Gemengelage an Interessen angeeignet,
besetzt und mit Bedeutung gefüllt wird – und an der auch das
Forschen „über“ und „in“ beteiligt ist. Der Band fragt also nicht,
was die (lateinamerikanische) Stadt ist, als vielmehr, wer sie
macht, wie und was wir aus ihrer Analyse, Beschreibung und
Durchquerung lernen können. Und – so suggeriert die
dezentralisierende Perspektive – „wo“ sie ist.
Zunächst zu den Subjekten unseres Lernens: Während die ersten zehn Beiträge expliziten Bezug auf die Begriffe nehmen, eröffnen die folgenden zwölf methodische Zugänge. Diese weitestgehend qualitativen, teilnehmend-beobachtenden und historisch-interpretativen Zugänge fokussieren Konflikte, Grenzziehungen, Raumaneignungen und Strategien des Widerstands und der Verdrängung. Zu Wort kommen Forschende der Anthropologie, Soziologie, Philosophie, Geschichts- und Politikwissenschaften; sie schreiben u.a. über Künstler_innen, U-Bahnfahrer_innen, Favela-Tourst_innen.
Die beiden Teile werden je durch eine „Größe“ der
lateinamerikanischen Stadtforschung eingeleitet: Der konzeptuelle
Teil beginnt als Interview mit dem Kulturanthropologen Néstor
García Canclini, den anderen leiten Fragmente aus der Feder des
mexikanischen Stadtchronisten Carlos Monsiváis ein. Stellt das
Gespräch mit Canclini insbesondere auf die spezifische Differenz
der lateinamerikanischen Stadtforschung ab und begibt sich damit
in ein dialogisches Spiel zwischen Innen- und Außenperspektive,
werden wir durch Monsiváis´ essayistischen Stil in die
Außergewöhnlichkeit des Alltags der mexikanischen Hauptstadt
hineingezogen. Schon aus einem solch unterschiedlichen Grad an
Immersion wird die methodische Spannweite der lateinamerikanischen
Stadtforschung ersichtlich, für die sowohl die wissenschaftliche
Debatte als auch die Stadtchronik unverzichtbare Formen
darstellen.
Was können wir aus den besprochenen „Szenarien“ über das Lokale
hinaus lernen? Canclinis „multitemporale Heterogenität“ (34)
findet sich als „Prisma“ (Frehse) mehrerer Beiträge. Damit sind
die koexistierenden und widersprüchlichen temporalen,
architektonischen und kulturellen Logiken der Stadtproduktion
gemeint: Moderne, prähispanische Vergangenheit und Kolonialität
überlagern sich und werden, übersetzt in die Konfliktivität von
Raumaneignungen (Caggiano und Segura) oder die Fragmentierung
urbaner Formen (Giglia) übersetzt, untersuchbar. Die Erkenntnis,
dass sich klassenbasierte und ethnisierte Differenzkonstruktionen
in Raumaufteilungen ausdrücken, ermöglicht ein Neudenken von
Exklusionsprozessen auch in anderen urbanen Kontexten.
Territorialität wird als eine analytische Richtschnur vorgestellt,
die die Szenarien des Buches umspannt.
Auch im imaginario, der Kreuzung aus Erfahrung und
Wahrnehmung mit Repräsentation und Diskurs, liegt das Potential
einer transnationalisierten Stadtforschung. Die Untersuchung etwa
zu „Angst“ als handlungsleitendem imaginario der
Bewohner_innen lateinamerikanischer Metropolen (Lopes de Souza)
kann als heuristische Folie zur Differenzierung von Öffentlichkeit
– als subjektiv ungleich erfahrenem Raum – von Sao Paulo in andere
Städte übertragen werden. Überwunden würde somit nicht nur eine
Dichotomie zwischen den von Gewalt durchzogenen „Städten des
Südens“ und den vermeintlich sicheren „Städten des Nordens“; es
wird so auch ein grundlegend anderes, nicht-habermasianisches
Verständ- nis von Öffentlichkeit entwickelt. In den
lateinamerikanisch verorteten estudios urbanos wird
Öffentlichkeit weniger als Verräumlichung einer universalen
Rationalität, sondern eher als Raum der Begegnung und Aushandlung
von Grenzen verstanden, so Huffschmid und Wildner in der
Einleitung. Insofern also Öffentlichkeit Aneignung impliziert,
fällt deren Opposition zum Privaten als eine – nur – historisch
verortete und partikular gültige Konstruktion auf.
Wie Hiernaux´ Beitrag verdeutlicht, sind die symbolischen
Aneignungen des jeweils Anderen asymmetrisch, der
kommerzialisierende Rückbezug von Stadterneuerungspolitiken auf
global sich verbreitende Werte der weltoffenen, multikulturellen
Stadt strategisch. Ihnen steht die faktische Verdrängung aus den
aufgewerteten Stadtzentren auf der Basis ethnischer und
ökonomischer Differenzkategorien entgegen. Diese doppelte Spannung
zwischen Aneignung und Verdrängung betrifft aber eben nicht nur
lateinamerikanische Städte. Sie ließe sich, so der Vorschlag, über
eine „kreolische Gentrifizierung“ (Hiernaux) – verstanden als die
Wiederaneignung der zum Festival stilisierten kulturellen
Hybridität durch marginalisierte Bevölkerungsteile – durchaus in
Berlin-Kreuzberg oder -Neukölln studieren. Indem der Sammelband zu
solchen Übersetzungen motiviert, erfüllt er seinen Anspruch der
Dezentrierung.
Kommen wir also zur Frage nach dem „wo“ der lateinamerikanischen
Stadt. Das Buch zeigt, dass Stadtforschung ein notwendig
interdisziplinäres Feld ist, das sich jenseits von Regionalismen
etabliert hat. Die Studien ermöglichen ein Hinterfragen der
diskursiven Konstruktion „der lateinamerikanischen Stadt“ und
ihrer sich ständig verändernden physischen Geographie. Zwei
Ausblicke, auf Forschungsperspektiven und
-verortungen, lassen sich hieraus ableiten: Canclinis Perspektive
der „multitemporalen Heterogenität“ ist sowohl im Kontext der
ehemals kolonialisierten Metropolen als auch in den Zentren der
Kolonialmächte geeignet, um die Vielschichtigkeit und Kontinuität
ihrer global verflochtenen Geschichte erfassen zu können. Dialoge
über Spezifik und Differenz metropolitaner
(Forschungs-)Erfahrungen jenseits diskursiver Grenzen der area
studies stellen eine konsequente Fortführung der
versammelten Ansätze dar und sollten Gegenstand künftiger
Wissensproduktion zur Verflechtung von Metropolen sein.
Hinsichtlich der Forschungsverortung – und den Aufruf zur
Dezentrierung ernst nehmend – motivieren die Übersetzungen der
„lateinamerikanischen“ Erkenntnismodelle des vorliegenden
Sammelbandes folglich auch Dialoge mit Forschungen aus den und
über die Zentren der Immigration, etwa Los Angeles, Chicago oder
Barcelona.