Eduardo Cesar Leão Marques (2012)
Farnham: Ashgate, 186 p.
Rezensiert von Markus-Michael Müller
Centre for Area Studies, Universität Leipzig
Lateinamerika ist eine der Weltregionen mit dem höchsten
Urbanisierungsgrad. Gleichzeitig weisen die urbanen Räume der
Region extrem hohe sozial-räumliche und
sozio-ökonomischePolarisierungstendenzen auf. Diese Tatsache hat
die Themen urbane Armut, Marginalität und Exklusion in den letzten
Jahren zu einem der am breitesten diskutierten akademischen und
sozio- politischen Themen werden lassen. Die Studie von Eduardo
Cesar Leão Marques, Livre-docente Professor am
Fachbereich Politikwissenschaft und Forscher am Centro de Estudos
da Metrópole (beides Universidade de São Paulo) nimmt sich dieser
Thematik vor dem Hintergrund empirischer Beobachtungen in São
Paulo an. Gegenüber vielen anderen Arbeiten zum Thema, welche
Armut und Marginalität in Lateinamerika zumeist aus einer
ökonomistisch-strukturalistischen oder
individualistisch-behavioristischen Perspek- tive analysieren, und
Armut damit als ein homogenes, entweder individuell oder
strukturell verursachtes/zu überwindendes Problem skizzieren,
schlägt Marques eine andere, komplexere Perspektive vor. Er
betrachtet Armut als ein „multidimensionales Phänomen, das durch
eine Vielzahl von sozialen Prozessen produziert wird, die mit
sozialen und ökonomischen Prozessen verbunden sind, an denen
Individuen im Laufe ihres Lebens teilnehmen“.1 Um
diese Multidimensionalität erfassen zu können, verfolgt seine
Studie einen relationalen, qualitative und quantitative Methoden
verbindenden Ansatz, der sich insbesondere auf die Beziehung
zwischen der Struktur und den internen Dynamiken persönlicher
Netzwerke und Armut fokussiert. Die diesem Forschungsansatz
zugrundeliegende An- nahme ist, dass es primär solche Netzwerke
sind, durch die „Individuen Zugang zu unterschiedlichen Elementen
erhalten, über die sie sich sozial reproduzieren und die zu ihrem
Wohlergehen beitragen“.2
Vor diesem Hintergrund wendet sich das erste Kapitel des Buches
einer ausführlichen Diskussion der gegenwärtigen Literatur zu den
Themen Armut, Segregation und soziale Netzwerke zu.
Seine Diskussion des Forschungsstandes führt Marques zur
Formulierung des Arguments, das die Analyse der weiteren Kapitel
anleitet: Er geht davon aus, dass „Netzwerke und Segregation sich
gegenseitig bedingende relationale und umweltbedingte Mechanismen
beinhalten, die Zugangsmöglichkeiten vermitteln und einen
entscheidenden Einfluss auf Lebensbedingungen ausüben“.3 Im nächsten Kapitel skizziert er den
empirischen Kontext anhand seiner Feldforschung, die er zwischen
2006 und 2007 durchgeführt hatte. Zuerst präsentiert er eine
allgemeine Einführung in die sozio-ökonomischen und räumlichen
Charakteristika der Metropolenregion von São Paulo und der
sie kennzeichnenden Urbanisierungsprozesse. Marques diskutiert
hier Daten (u.a. Armuts- und Beschäftigungsraten sowie Daten zum
Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen), welche eine große
Varianz bezüglich der sozio-räumlichen Ausprägung von Armut und
Segregation aufweisen. Diese interpretiert Marques als Ausdruck
einer „wachsenden Diversität“, die „entgegengesetzt zu der
dominanten Sichtweise auf Armut und deren Räumlichkeiten in der
internationalen Literatur steht, welche dazu tendiert das Phänomen
[der räumlichen Manifestation von Armut] in einer
homogenisierenden Art und Weise zu beschreiben“.4
Diesem allgemeinen Überblick folgt eine Vorstellung der
empirischen Untersuchungsorte (ein Slum, fünf favelas und
ein soziales Wohnungsbauprojekt), die vom Autor ausgewählt wurden,
um die existierende Vielfalt (und Gemeinsamkeiten) lokaler
Segregationsmuster und die jeweilig korrespondierenden Netzwerke
zu unter- suchen, deren Segregationsmerkmale, Wohnbedingungen und
sozio- demographische Charakteristika. In einer vergleichenden
Diskussion der entsprechenden Daten kommt Marques zu dem Ergebnis,
dass „die Beziehung zwischen Segregation und Armut komplex ist und
keine direkten Kausalrückschlüsse zulässt“.5
Diese Komplexität findet sich auch in jenen, den jeweiligen
Forschungsorten korrespondierenden Formen und Dynamiken der
sozialen Netzwerke wieder, welchen sich Marques in den nächsten
Kapiteln (3, 4 und 5) annimmt. Er kommt hier zu dem Ergebnis, dass
es einen deutlichen Bezug zwischen der Art und Größe des
Netzwerkes gibt, in das Individuen eingebettet sind und deren
Armutsrisiko bzw. dessen Verminderung: „In allen Fällen wiesen
Individuen mitmittelgroßen Netzwerken, die wenig Lokalismus
zeigten und deren Gesellschaftlichkeit sich um Organisationsorte
(wie etwa Kirchen, Arbeitsplatz oder Vereine) herum konstruierte,
die besten Bedingungen [zur Vermeidung von Armutsrisiken] auf“.6
Das folgende Kapitel analysiert ob und inwiefern soziale Netzwerke
den sich in ihnen bewegenden Akteuren Zugang zu Gütern und
Dienstleistungen ermöglichen. Marques bejaht diese Frage und weist
insbesondere auf unterschiedliche Auswirkungen von Reziprozitäts-
und Vertrauensverhältnisse hin, sowie auf die hiermit
korrespondierenden steigenden oder sinkenden individuell
notwendigen Kosten für den Zugang zu Gütern und Dienstleistungen.
Während die vorangegangen Kapitel überwiegend die Ergebnisse und
die Konsequenzen bestimmter Netzwerkstrukturen für urbane Armut
dokumentiert haben, wendet sich Kapitel 7 der Analyse konkreter
Mechanismen zu, die die Entstehung von sozialen Netzwerken, deren
Wandel über Zeit und Gesellschaftlichkeit (sociability),
sozialem Handeln und den hieraus resultierenden Möglichkeiten
individueller Armutsmilderung beitragen. In der Konklusion fasst
Marques noch einmal zentrale Ergebnisse seiner Studie zusammen und
formuliert Überlegungen zu deren praktischer Umsetzung im Rahmen
von staatlichen Politiken, wobei er insbesondere den hierfür
notwendigen „langen Atem“ hervorhebt, denn „öffentliche Programme,
die darauf abzielen Netzwerke zu dynamisieren, müssen langfristig
angelegt sein, auf institutionalisierten Implementationsstrukturen
aufbauen und werden ihre Effekte wahrscheinlich erst über relativ
lange Zeiträume hinweg entfalten“.7
In der Zusammenschau leistet das Buch einen spannenden Beitrag zu
den aktuellen Debatten über Armut und sozial-räumlich
Polarisierungsprozesse in Lateinamerika – dies nicht zuletzt
dadurch, dass das Buch durch seine relationale Perspektive und den
netzwerkanalytischen Zugang die Komplexität urbaner Armut und
sozialräumlicher Polarisierung in Lateinamerika jenseits der in
den Debatten häufig im Zentrum stehenden dichotomen und oftmals
einfache Kausalitätsbeziehungen suggerierenden Begriffe (wie etwa
das Begriffspaar Formalität/Informalität) ver- meidet. Allerdings
muss erwähnt werden, dass man dem Buch, trotz der im Vorwort
erwähnten Überarbeitung anmerkt, dass es auf einer
Qualifikationsarbeit, nämlich der Livre-docente-Arbeit des
Autors, basiert. Das fällt insbesondere in der stellenweise etwas
zu ausführlich und kleinteilig ausfallenden Literaturdiskussion
auf. Hier wäre ein zuspitzerendes Vorgehen wünschenswert gewesen,
denn die Diskussion hat zu oft den Charakter einer
qualifikationsarbeitstypischen minutiösen Darstellung des
Forschungsstandes. Ebenso wäre es am Ende des Buches interessant
gewesen, die empirischen Befunde in einen größeren, über São
Paulo hinausgehenden Kontext zu stellen. Aber dies sind eher
kleinere „Schönheitsfehler“. Alles in allem hat Marques eine
gelungene Veröffentlichung vorgelegt, die jeder Leserin und jedem
Leser, die oder der sich mit urbaner Armut in der Region
beschäftigen möchte, zur Lektüre zu
empfehlen ist.
1 “[M]ultidimensional phenomenon produced by a range
of social processes linked to the participation of individuals in
social and economic processes through their life trajectories”
(13)
2 “[I]ndividuals obtain access to the diverse elements involved in
their social reproduction which contribute towards their
well-being” (7)
3 “[N]etworks and segregation contain relational and environmental
mechanisms (respectively) that mediate access and have a decisive
influence on living conditions” (41)
4 “[R]uns counter to the description of poverty and its spaces
predominant in the international literature, which tends to
consider the phenomenon [the spatial manifestation of poverty] in
a homogenizing form“ (47)
5 “[T]he relationship between segregation and poverty is complex
and prevents any direct inferences from being made” (68)
6 “[I]n all cases, the best conditions were those of individuals
with medium-sized networks, evincing little localism and with a
sociability constructed around organizational spaces (church, work
and associations), which tends to be less homophilous” (118)
7 “[P]ublic programs that aim to dynamize networks must be
long-lasting, based on institutionalized implementation structure,
and will probably produce effects over relatively long-term time
scales” (155)