Raúl Zibechi (2011)
Berlin und Hamburg: Assoziation A, 172 S.
Rezensiert von Monika Streule
Departement Architektur, ETH Zürich
Eine Landkarte zeigt kein neutrales Gebiet, sondern stellt
vielmehr einen geführten, subjektiven Blick auf einen ausgewählten
Ausschnitt der Welt dar. Raúl Zibechi nimmt dieses Instrument des
Kartierens für sein Buch Territorien des Widerstands. Eine
politische Kartographie der urbanen Peripherien Lateinamerikas (2011)
bewusst zur Hand und zeichnet eine explizit politische Karte des
lateinamerikanischen urbanen Kontinents. Er lädt auf diese Weise
zu einem anderen Blick auf Marginalität ein: Von unten und von der
Peripherie aus blickend dezentralisiert der Autor nicht nur die
Sichtweise auf städtische Armut, sondern denkt diese auch mit
einer anderen Geographie des Wissens, die auf lateinamerikanischen
Erfahrungen, Begrifflichkeiten und Konzepten beruht. Durch diese
doppelte Umkehrung des Blicks gelingt es Zibechi, die alltäglichen
Handlungen der Bewohner_innen marginalisierter Stadtteile als
urbane Strategien zu fassen – und nicht als Kampf ums Überleben.
In seiner widerständigen Kartographie Lateinamerikas sind die
Marginalisierten handelnde Subjekte, die Räume produzieren, in
welchen sie andere Wirklichkeiten leben als der hegemoniale
Diskurs es ihnen zugesteht. Territorien des Widerstands führt
die Dekolonisierung des kritischen Denkens anhand der Debatte über
Theorien lateinamerikanischer sozialer Bewegungen weiter, indem es
deren eigene und daher zu beispielsweise mitteleuropäischen
Erfahrungen unter- schiedliche Grundlagen anerkennt. Der kleine
Band ist unterdessen in vier Sprachen erschienen (Spanisch 2008,
Deutsch 2011, Englisch 2012, Italienisch 2012) und genießt gerade
auch durch seine zugängliche und klare Sprache eine
außergewöhnliche Resonanz innerhalb einer politisch interessierten
Leser_innenschaft, die weit über das akademische Umfeld
hinausgeht.
Zibechi, der in Montevideo lebende Sozialforscher und Journalist,
ist viel bereist und engagiert sich in zahlreichen
lateinamerikanischen Ländern. Ausgehend von dieser langjährigen
Erfahrung zeigt er auf, dass die städtischen sozialen Bewegungen
der 1970er und 1980er Jahre – die heute noch für die
lateinamerikanische Erfahrung par excellence stehen –
unterdessen größtenteils in das System eingebunden sind.
Autoritäre Regierungen erreichten mit einer Mischung aus
Repression, Kooptation und Integration durch Sozialprogramme eine
Fragmentierung und Schwächung jener Bewegungen. Die aktuelle
Selbstorganisation in den urbanen Peripherien großer Städte
Lateinamerikas ist eine andere: Sie kommt ohne formalisierte
Strukturen aus und hat kein artikuliertes politisches Programm.
Zibechi spricht von tiefgreifenden Verschiebungen innerhalb der
sozialen urbanen Bewegung „von der Aneignung des Landes und des
Raumes zum Aufbau von Territorien; von der Konstitution neuer
Subjektivitäten zur Herausbildung von neuen politischen Subjekten,
die anders sind als jene alte industrielle, in Gewerkschaften
organisierte Arbeiterklasse; von der Arbeitslosigkeit zur
Schaffung neuer Jobs einer widerständigen Ökonomie“ (80). Über
sechs dichte Kapitel spürt er dieser These nach und basiert die
Analyse auf konkreten Ereignissen in den Städten Buenos Aires und
Santiago de Chile, den Andenländern oder Südmexiko. Im ersten und
ausführlichsten Kapitel konstruiert er die sociedades en
movimiento (Gesellschaften in Bewegung): ein bewegliches
und fließendes politisches widerständiges Subjekt, das ohne
Anführer_ innen und ohne einheitliche Ideologien eine potentielle
Gegenmacht von unten darstellt. Diese Gesellschaften in Bewegung
verortet der Autor in den ausgedehnten armen Peripherien der
Megalopolen und in einigen wenigen Arbeiter_innen- und
Mittelschichtsvierteln. Von solchen der kapitalistischen
Verwertungslogik widerstehenden Inseln aus entfaltet sich nach
Zibechi eine neuartige territoriale Strategie. Diese eher wolkige
Umschreibung der sociedades otras, der neuen, „anderen“
Gesellschaften, gewinnt im zweiten Kapitel durch die
Konkretisierung ihrer Handlungen an Konturen. Darin schildert der
Autor, wie sich Marginalisierte über die Zurückweisung des ihnen
historisch zugewiesenen Orts am Rande der gesellschaftlichen
Ordnung selbstbestimmt städtische Räume aneignen und damit ihre
eigenen Ausdrucksräume erweitern. Die Kapitel 3 und 4 handeln von
den andersartigen Machtverhältnissen und horizontalen Beziehungen,
die solche neu entstehenden Räume durchziehen. Zibechi zeigt, wie
solche Stadtteile permanenten Zugriffsversuchen der Eliten
ausgesetzt sind – und dennoch als Räume möglicher
Handlungsfähigkeit überleben. Gerade dieses emanzipatorische
Potential interessiert Zibechi im fünften Kapitel. Im
abschließenden Kapitel stellt er diese mit neuer Bedeutung
aufgeladenen Territorien als mit dem Kapital unvereinbare Räume
dar. Er unterstreicht, dass los de abajo nicht-
institutionalisierte Formen der Bündnispolitik entwickeln und
pflegen müssen, um sich gegenseitig zu stärken.
Zibechi zieht an verschiedenen Stellen des Buches den Vergleich
zwischen urbanen und bäuerlichen und/oder indigenen Bewegungen und
kommt zum Schluss, dass gerade durch die Rückeroberung
beziehungsweise Verteidigung von Territorien an Stärke gewonnen
werden kann. Er argumentiert weiter, dass kollektiver oder auch
privater Bodenbesitz in der städtischen Peripherie nicht in jedem
Fall ein Hindernis für die Subjektbildung ist, sondern dass
Eigentümer_innen oft einer Logik des materiellen aber auch
symbolischen Gebrauchswerts folgen. Im Zuge dieser Ausführungen
entwirft er das Widerstandssubjekt Frau-Mutter: Ein in Anlehnung
an Larissa Lomnitz gemachter kraftloser Versuch, die handelnden
Subjekte und deren Rekurs auf Solidarität und Reziprozität zu
fassen. Eine differenziertere Sicht auf Geschlechterverhältnisse
und ein kritisches, nicht-essentialistisches oder sogar
widersprüchliches Subjekt wäre hier weitaus sinnvoller. Trotz
dieser konzeptuellen Schwachstelle ist Zibechis Vorschlag,
marginalisierte städtische Räume als Produkt sozialer Kämpfe zu
lesen, vielversprechend. Er lehnt sich hier an Henri Lefebvre und
David Harvey an um zu zeigen, dass sich neu konstituierende
Subjekte durch die Hervorbringung neuer Territorialitäten äußern
und bestätigen. Im Umkehrschluss postuliert er in Bezug auf Carlos
Walter Porto- Gonçalves, dass Territorien nur auf Grund der sie
formenden sozialen Beziehungen und Machtverhältnisse existieren –
und somit weder auf ihre Funktionalität noch auf allgemeine
(ökonomische) Strukturen reduzierbar sind.
Im Kampf um die Dekolonisierung des Denkens ist für Zibechi die
Rückbesinnung auf das Konzept des Territoriums ein zentrales
Element (32). Dieses Konzept hebt die Rolle der Alltagserfahrungen
und des kollektiven Gedächtnisses hervor und ermöglicht es,
soziale Konflikte neu zu betrachten. Derart sichtbar gemachte
andere Erfahrungen als der Alltag in den übrigen Stadtteilen
hervorbringt besitzen ein großes gesellschaftliches
Veränderungspotential und sind das eigentliche Fundament der sociedades
otras. Das foucaultsche Konzept der Biopolitik, für welches
Territorium gleichwohl ein Schlüsselbegriff ist, dient Zibechi als
weiterer theoretischer Baustein in seinen Überlegungen zu
Territorialität. Dabei läuft dieser deutliche territoriale Fokus
des Autors zeitweise Gefahr, einen isolierten Mikrokosmos der
peripheren Stadtteile zu erzeugen. Das Urbane bleibt in dieser
Kartographie autonomer und vom Rest der Stadt abgekoppelter
Territorien meist ein verschwommener Hintergrund. Die Verortung
der barrios, villas oder colonias populares im
städtischen Gefüge – beziehungsweise ein relationales Verständnis
der Urbanisierung – hätte diese Blindstellen beleuchten können. Territorien
des Widerstands liefert keine starren Antworten, sondern
ist ein leidenschaftlich vorgetragener Aufruf, die
Wissensproduktion fortlaufend weiter zu dezentralisieren. Damit
stellt Zibechi eine kontroverse, aber nichts desto trotz höchst
anregende Kartographie eines bewegten Kontinents zur Diskussion.