André Cicalo (2012)
New York: Palgrave Macmillan, 242 S.
Rezensiert von Sarah Lempp
Universität Leipzig
Im April 2012 bestätigte der Oberste Gerichtshof Brasiliens
einstimmig die Verfassungsmäßigkeit von Quoten für
Afrobrasilianer_innen und Schüler_innen öffentlicher Schulen, wie
sie seit Anfang der 2000er Jahre an vielen staatlichen
brasilianischen Universitäten eingeführt worden sind. Das Urteil
löste in der brasilianischen Öffentlichkeit erneut eine Debatte um
dieses Thema aus, das eng mit Fragen nationaler Identität und der
Rolle von Rassismus in der Gesellschaft verknüpft ist.
Kritiker_innen sehen in den Quoten eine Gefahr für die Gleichheit
aller Bürger_innen im Staat. Demgegenüber begrüßen vor allem
antirassistische Bewegungen die Einführung von Quoten als Mittel
zur Wiedergutmachung historischer Ungleichheiten.
Auch im akademischen sozialwissen- schaftlichen Feld werden die Auswirkungen der Quoten seit ihrer Einführung diskutiert, wobei hier bisher die positiven Bewertungen der affirmative-action-Maßnahmen über- wiegen. Die Debatte schließt u.a. an Forschungen zu den Spezifika der brasilianischen race relations an. Während diese bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts als besonders „harmonisch galten und Brasilien im offiziellen Diskurs als „Rassen- demokratie“ bezeichnet wurde, forderten Aktivist_innen und Sozialwissenschaftler_ innen dieses Bild ab den 1970er Jahren zunehmend heraus und rückten den nach wie vor stark ausgeprägten gesellschaftlichen Rassismus ins Blickfeld. Ein weiterer zentraler Aspekt der Debatte bezieht sich auf die Frage nach Veränderungen der „ethnischen“ Selbstidentifikation der brasilianischen Bevölkerung, deren enorme Vielzahl seit langem Gegenstand der Forschung ist. Dabei zeigen statistische Erhebungen der letzten Jahrzehnte eine steigende Tendenz der Selbstbezeichnung als Schwarz, welche als Abwendung von den flexiblen „Rasse“- Kategorien interpretiert wird, für die Brasilien bekannt ist.
Der Anthropologe André Cicalo ergänzt die Debatte nun um eine
ethnographische Studie, die die Komplexität solcher
Identitätsprozesse nachzeichnet. Ein Jahr lang begleitete er
Jura-Studierende in ihren ersten beiden Semestern an der
Universidade do Estado do Rio de Janeiro (UERJ), die 2003 als eine
der ersten Universitäten in Brasilien Quoten eingeführt hatte.
Ziel seiner Forschung ist die Bereicherung der philosophisch
geprägten Debatte über Risiken und Konsequenzen der Quoten durch
eine empirische Studie, welche das Zusammenspiel von „Rasse,
Klasse, Gender und Raum in einem bestimmten Setting qualitativ
analysiert. Durch die Kombination seines reichhaltigen, vor allem
unter Quoten-Studierenden erhobenen ethnographischen Materials mit
gut ausgewählten statistischen Daten gelingt es ihm, ein
komplexes und detailliertes Bild dieser verschiedenen,
miteinander verknüpften Ebenen zu zeichnen. Quoten versteht er
dabei als „symbolisches Vehikel, mit dem die Beziehungen zwischen
Zentrum und Peripherie in der Stadt und indirekter auch im Staat
hinterfragt werden können“.1 Er analysiert
sie als ein Werkzeug, mit dem historisch begründete Ungleichheiten
bekämpft werden können, die sich auch in den städtischen Raum
eingeschrieben haben.
Das Buch gliedert sich in sechs Kapitel. Im ersten Kapitel
begründet Cicalo seine Fallauswahl damit, dass das Jura-
Department der UERJ aufgrund des besonders prestigeträchtigen und
daher von weißen Studierenden dominierten Studiengangs eine der
Abteilungen war, die sich durch die Einführung von Quoten am
meisten veränderte. Zudem sind hier die wenigsten
Studienanfänger_innen antirassistisch politisiert, weshalb ihre
Einschätzungen zum Thema weniger vom Diskurs solcher Gruppen
vorgeprägt sind, als in anderen Studiengängen. Im zweiten Kapitel
gibt der Autor einen Überblick übez das sozioökonomische
Profil der Quoten- Studierenden, von denen viele aus
unteren, vor allem afrobrasilianischen Schichten stammen. Das
dritte Kapitel widmet sich der räumlichen Anordnung und der
Begegnung von Quoten- und Nicht-Quoten-Studierenden an der
Universität und in der Stadt insgesamt. Angesichts der Tatsache,
dass Schwarze und Weiße in Brasilien historisch schon immer
gemeinsam in vielen Räumen präsent waren, besteht die Besonderheit
der Quoten darin, dass Afrobrasilianer_innen und Arme nun im
universitären Raum eine andere Rolle als bisher einnehmen: Anstatt
als „niedere Angestellte“ begegnen sie ihren weißen
Kommiliton_innen als formell Gleichgestellte; die Quoten
ermöglichen ihnen, mit der Universität einen „Raum der Macht“2 zu erobern. Cicalo betont daher die
Bedeutung von Quoten als verstärkendem Faktor sozialer Mischung:
Auch wenn sie keine radikale Veränderung der Beziehungen zwischen
Angehörigen unterschiedlicher Schichten mit sich bringen,
begünstigen sie doch „städtische Begegnungen“.3
Im vierten Kapitel geht der Autor näher auf die „rassischen“
Kategorien in Brasilien ein, die oft als sehr flexibel
bezeichnet werden und bei den Diskussionen um Quoten
eine zentrale Rolle spielen. So fordern etwa viele Initiativen
schwarzer Brasilianer_ innen, die Kategorien preto („schwarz“)
und pardo („braun“) in der Kategorie negro zusammenzufassen.
Diese einfache Gleichsetzung hält Cicalo für problematisch, da
sich der Grad der Diskriminierung von pretos und pardos
bisweilen deutlich unterscheide. Für manche Brasilianer_innen
mache die flexible pardo-Kategorie
zudem viel von Brasiliens „mestiço national
pride“ (93) aus. Sie fürchteten, die Quoten könnten eine
Bipolarisierung der brasilianischen Gesellschaft in Schwarze und
Weiße mit sich bringen, wie sie lange Zeit für die USA
charakteristisch gewesen sei. Cicalos Forschung liefert jedoch
keine Belege für diese Befürchtung. Vielmehr zeigt sich in deren
Verlauf, dass ein bipolares Modell auch mit einem multiplen
Modell koexistieren kann, und zwar „durch einen komplexen Prozess
von Einschließung/Verbindung von Schwarzsein und mestiçagem“.4
Das fünfte Kapitel wirft einen Blick auf die „schwarze
Politisierung“ von Quoten- Studierenden. So kommen die
häufig kaum politisierten Quoten-Studierenden der
juristischen Fakultät an der Universität in Kontakt mit
antirassistischen Aktivist_innen. Cicalo interpretiert daher
„black awareness“ (127) und universitäre Bildung als Möglichkeiten
für die Quoten-Studierenden, mehr Zugang zum (gesellschaftlichen)
Zentrum zu bekommen.
Cicalo zieht insgesamt ein positives Fazit der Implementation von
Quoten an der UERJ. Zum einen sieht er wichtige Auswirkungen auf
der symbolischen Ebene, u.a. durch die vielfältigen Effekte auf
die „schwarze Bewusstseinsbildung“5:
Die zuvor extrem fragmentierte afrobrasilianische
Bewegung wurde gestärkt, da schwarze Studierende
durch den verbesserten Zugang zu höherer Bildung darin bestärkt
werden, gegen Rassismus und „Rassen“-Ungleichheit vorzugehen.
Außerdem wurde auf gesamtgesellschaftlicher Ebene der Mythos
hinterfragt, demzufolge es in Brasilien aufgrund des hohen Maßes
an „ethnischer Mischung“ keinen Rassismus gebe (171). Zum anderen
haben die Quoten laut Cicalo auch konkrete materielle
Auswirkungen, indem sie „zumindest ein gewisses Maß an
Umverteilung und Diversifikation unter den Eliten“6
schaffen.
Theoretische Konzepte – etwa von Charles Taylor, Nancy Fraser,
James Scott, Stuart Hall, Ernesto Laclau/Chantal Mouffe und Bruno
Latour – erwähnt Cicalo im Verlauf des Buchs jeweils nur kurz und
verknüpft sie sehr diffus mit seiner Empirie, ohne sie wirklich
für seine Arbeit fruchtbar zu machen. Hier wäre eine konsequentere
Theoretisierung spannend gewesen, indem die entsprechenden
Kategorien am Anfang des Buches eingeführt und stärker auf das
Material angewendet worden wären.
Damit verbleibt das Buch auf der Ebene einer eher
empirisch-deskriptiven Herangehensweise an das Thema. Dafür
gelingt Cicalo jedoch durch die ausführliche teilnehmende
Beobachtung ein umfassender Einblick in die Komplexitäten persönlicher
Identitätsprozesse sowie in Konsequenzen und Fallstricke von affirmative
action in Brasilien. So gibt er Einblick in Besonderheiten
der oft als horizontal beschriebenen race relations in
Brasilien und zeigt auf, dass Gesellschaften nicht
notwendigerweise entlang strikter „Rassen“-Grenzen strukturiert
sein müssen, um Politikmaßnahmen für mehr „Rassen“- Gleichheit zu
implementieren (174f.). Sein Buch bietet empirische Ansatzpunkte
für Wissenschaftler_innen, die zu verwandten Themen arbeiten, gibt
jedoch auch allgemein an Brasilien interessierten Leser_ innen
gute Einblicke in diese hochaktuelle gesellschaftspolitische
Debatte. Das in der Einleitung skizzierte Vorhaben, die sehr
abstrakte Debatte über die Situation und Identität von
Quoten-Studierenden durch eine ethnographische Herangehensweise zu
bereichern, ist Cicalo somit eindeutig gelungen.
1 „a symbolic vehicle to question relations between
center and periphery in the city, and more indirectly in the
state“ (8)
2 „space of power“ (30)
3 „urban encounters“ (86)
4 „through a complex process of encompassment/ articulation
between blackness and mestiçagem“ (121)
5 „black consciousness“ (171)
6 „at least some form of redistribution an diversification among
elites“ (173)