Walter D. Mignolo Epistemischer Ungehorsam. Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität [Aus dem Spanischen Übersetzt und Eingeleitet von Jens Kastner und Tom Waibel] Wien: Thuria + Kant, 2012, 207 p. |
Rezensiert von Laura Kemmer
Freie Universität Berlin
„Die Philosophen haben die Welt verschieden interpretiert“ – angelehnt an den weiteren Wortlaut der 11. Feuerbach-These von Karl Marx erscheint im Wiener Verlag Turia + Kant seit 2005 die Reihe „Es kommt darauf an“. Während die vielzitierte These des deutschen Philosophen die Treppenstufen im Foyer der Berliner Humboldt-Universität in goldenen Lettern schmückt, wird die lateinamerikanische Debatte um dekoloniale Perspektiven im deutschsprachigen akademischen Kontext bisher äußerst lückenhaft rezipiert. In Reaktion auf ebendiese Tendenz einer Verengung kritischer Theorieproduktion auf westlich-marxistisch geprägte Autor_innen, veröffentlicht der Verlag im vergangenen Jahr unter dem Titel Epistemischer Ungehorsam einen Aufruf des argentinischen Kulturwissenschaftlers Walter D. Mignolo. Die Originalausgabe des Buches erschien im Jahr 2006 unter dem Titel Descolonialidad del ser y del saber (Buenos Aires, Ed. del signo). Mit der erstmaligen Übersetzung eines der Hauptwerke Mignolos ins Deutsche ermöglichen die Herausgeber Tom Waibel und Jens Kastner einem breiteren Publikum den Zugang zum dekolonialen Denken an der Schnittstelle von politischer Theorie und Praxis. Leser_innen mit wissenschaftlichem und/oder aktivistischem Interesse bringt Mignolo anhand der Re-Lektüre historischer Befreiungsbewegungen Strategien zur Dezentrierung okzidentalen Denkens näher. Die Konstruktion von „anderem Wissen“, so die zentrale These des Buches, muss von dekolonialen Subjektivitäten, also den Erfahrungen der im okzidentalen Denken negierten Menschen, ausgehen. Bereits in der 36-seitigen Einleitung diskutieren Kastner und Waibel „dekoloniale Optionen“ (9) als praxisbezogene Möglichkeiten zur „Veränderung der Welt“ (41). Die Entwicklung von Alternativen zur cartesianischen Epistemologie („ich denke, also bin ich“) auf Basis einer Körperpolitik des „man ist, von wo aus man denkt“ (58) ermöglicht es nach Einschätzung der Herausgeber, auch die eigene Forschungspraxis zu hinterfragen.
Den mit der Debatte weniger vertrauten Leser_innen bieten Waibel und Kastner zunächst einen umfassenden Überblick zu dekolonialen Begriffen und Argumenten (Kap. 1). Auf die disziplinäre Verortung der Thesen Mignolos innerhalb der Kulturwissenschaften sowie der Postkolonialen und Subalternen Studien folgt die Vorstellung zweier zentraler theoretischer Bezugspunkte der dekolonialen Perspektive: Das Konzept der „Kolonialität der Macht“ des peruanischen Soziologen Aníbal Quijano sowie die Philosophie der „Transmoderne“, die von dem argentinischen Philosophen Enrique Dussel geprägt wurde. Einen Kontrast zu dieser detaillierten Einführung bildet die eher verkürzte Darstellung des Entstehungskontextes der Perspektive Mignolos, die vereinfacht als „lateinamerikanischer Postkolonialismus“ bezeichnet wird. So publiziert Mignolo zwar als einziger dekolonialer Denker explizit auch zu diesem Thema (vgl. aktuell Learning to Unlearn, Hrsg. mit M. Tlostanova 2012, insb. Kap. 1), jedoch ist anzumerken, dass er als Mitglied der lateinamerikanische Gruppe Modernität/Kolonialität (M/C)1 eine gemeinsam entwickelte Präferenz für Dekolonialität teilt. Während der Postkolonialismus vorrangig auf Fragen zu Kultur und Identität in den ehemaligen britischen Kolonien fokussiert ist, problematisieren dekoloniale Denker_innen Kolonialität als ein seit der iberischen Kolonialisierung Lateinamerikas im 15. Jahrhundert fortwirkendes System „rassischer“ Dominanz des Westens mit dem Ziel der „einen Moderne“. Auch ist die Gruppe M/C bereits bei ihrer Gründung keineswegs rein „kulturtheoretisch“ (15) ausgerichtet, sondern wird als multidisziplinärer Ansatz sowohl von Befreiungstheologie als auch von Dependenztheorie und Weltsystemanalyse sowie Vertrer_innen des Chicana Feminismus und der Black/Ethnic Studies beeinflusst.
Analog zum Titel fordert Mignolo im ersten Kapitel zum epistemischen Ungehorsam gegenüber dieser scheinbar universellen Rationalität auf. Das Gros seiner Überlegungen widmet der Autor der Wechselwirkung zwischen eben jener „Rhetorik der Moderne“ und der „Logik der Kolonialität“ (Kap. 2-3). Um die Systematik dieses philosophischen Dilemmas aufzudecken, bezieht sich Mignolo auf die von Frantz Fanon geforderte „Dekolonialisierung der Kolonisatoren“ (65). Eine „Grammatik der Dekolonialität“ (Kap. 4) impliziert demnach die epistemische Entkoppelung von der kolonialen Matrix der Macht: Über die Denaturalisierung der Kontrolle von Arbeitskraft und Territorium, Autorität, Geschlecht, Sexualität und Natur werden ebenjene Subjektivitäten rekonstruierbar, welche die Moderne an ihrer „finstersten Seite“ verbirgt (46). An den Ausgangspunkt seiner Überlegungen stellt Mignolo folglich die Frage nach den „möglichen Agent_innen und Adressat_innen von Emanzipations- oder Befreiungsprojekten“ (63). Das Fundament einer Befreiung „von unten“ (188) bietet das pluriverse Grenzdenken (Anzaldúa) einer nicht-europäischen Alterität, so der Autor. In diesem Sinne wird der eurozentrischen Erzählung einer „alternativlosen Moderne“ keine neue universelle Utopie, sondern das dekoloniale Projekt der Transmoderne entgegengesetzt: Ausgehend von der Verbindung aller Lokalgeschichten einer „aktiven zivilen Gesellschaft“ (188) kann so ein gemeinsamer Erfahrungsraum im Sinne eines „Ort des Anderen“ geschaffen werden.
Die Bedeutung der deutschen Übersetzung von Epistemischer Ungehorsam als Beitrag zu einer Dekolonialisierung von Wissen und Erkenntnis gerade im sogenannten Zentraleuropa wird von Waibel und Kastner überzeugend herausgearbeitet. Bereits deren Einleitung folgt einer „Grammatik der Dekolonialität“, indem sie dominante Wissenschaftsstandards der Beschreibung entsubjektivierter Erkenntniszusammenhänge durchbricht. Einer lehrbuchartigen „Einführung in die dekoloniale Debatte“ aus scheinbar wissenschaftlich-neutraler Perspektive setzen die Herausgeber die eigene Subjektivität entgegen. So kritisieren Waibel und Kastner u.a. eine „zuweilen mangelnde Detailliertheit“ (26) der Ausführungen Mignolos bezüglich der Einordnung des ehemaligen iranischen Staatsoberhauptes Ajatollah Chomeini als arabisch-islamischen Denker, welcher „die Dekolonialität klar formuliert“ (71) habe. Produktiv nutzen die Herausgeber diesen Punkt, um auf die keineswegs zwingend kausale Beziehung zwischen den im Plural existierenden dekolonialen Optionen und einer Befreiung von der Kolonialität der Macht hinzuweisen.
Auch im weiteren Verlauf des Buches intervenieren die Herausgeber. So kommentieren sie die Thesen zur eurozentrischen Moderne mit einer ausführlichen Fußnote zu „antisemitischen Klischees“ (26), welche Mignolo mit seinem Verweis auf die „Komplizenschaft [von Jüd_innen] mit der aktuellen Machstruktur“ (113) reproduziert. Die Hegemonie, welche Mignolo für das vom Christentum dominierte europäische Denken konstatiert, wird von Waibel und Kastner dankenswerterweise differenziert, indem sie zunächst auf die von Mignolo selbst thematisierte Rolle von Jüd_innen als nicht-europäische Andere innerhalb Europas hinweisen. Zusätzlich kontextualisieren sie die verkürzte Wiedergabe dieser durchaus auch innerhalb des geographischen Raums Europa formulierten Hegemonie-Kritik, indem sie auf die Präferenz Mignolos für eine radikalen Loslösung im Sinne der „epistemischen Entkoppelung“ (27) vom okzidentalem Denken verweisen.
Eine weitere Reflexion der Subjektivität der Herausgeber wäre an ebendieser Stelle durchaus wünschenswert. Während der Hinweis auf die Existenz dekolonialer Subjekte in Europa und die hiermit einhergehende Kritik an geografischen Essentialismen im Denken Mignolos eher verkürzt erfolgt, widmen Waibel und Kastner der möglichen Verknüpfung von Kritischer Theorie und Dekolonialen Ansätzen eine mehrseitige Auseinandersetzung. Insbesondere die marxistischen Einflüsse der von Mignolo zitierten Autoren weisen Waibel und Kastner detailliert nach, um zu „verhindern [...], dass im Zuge der im vorliegenden Buch postulierten dekolonialen Wende auch die kritischen Errungenschaften des okzidentalen Denkens auf der Schutthalde der Geschichte entsorgt werden“ (39). Die Frage nach den Adressat_innen der Mignolo”schen Überlegungen, speziell vor dem Hintergrund einer deutschen Erstveröffentlichung, könnte von den Herausgebern etwas deutlicher reflektiert werden. Entsprechend empfiehlt sich angesichts der bereits gefestigten Position marxistischen Denkens in ebendiesem Sprachraum eine etwas weniger raumeinnehmende Einleitung.
Die Veröffentlichung einer Intervention des Vertreters dekolonialer Perspektiven, der im deutschsprachigen Raum am häufigsten rezipiert wird, sollte letztlich gerade nicht den Eindruck einer Einführung in das dekoloniale Denken erwecken. Der Aufruf zum Epistemischen Ungehorsam bietet vielmehr konkrete theoretische, methodologische und praktische Ansatzpunkte für (selbst)kritische Leser_innen, welche ein Verlernen okzidentaler Epistemologien anstreben.
1 Die Gruppe wurde u.a. von Fernando Coronil, Enrique Dussel, Arturo Escobar, Santiago Castro-Gómez, Ramón Grosfoguel, María Lugones, Nelson Maldonado-Torres, Walter Mignolo, Aníbal Quijano und Catherine Walsh gegründet, nachzulesen in El giro decolonial (Castro-Gómez und Grosfoguel, Hrsg. 2007, Siglo del Hombre)