Gabriel Salazar

Movimientos Sociales en Chile. Trayectoria histórica y proyección política

Santiago de Chile: Uqbar, 2012, 469 p.

 

Rezensiert von Judith Lennartz

Universität Hamburg

 

 

Der Historiker Gabriel Salazar gilt als Begründer der sozialen Geschichtsschreibung in Chile, welche seit den 1990er Jahren die Verengung der chilenischen Historiographie auf den Staat und seine Institutionen zu überwinden sucht. In seinem neuesten Buch leistet er eine umfassende Analyse der chilenischen Verfassungs- und Sozialgeschichte, die darauf gerichtet ist, theoretische Lücken in der lateinamerikanischen, speziell der chilenischen, Bewegungsforschung zu schließen. In beiden Bereichen mangele es bislang an einer eigenen Theoriebildung (405, 435). Die theoretische Motivation des Autors wird jedoch erst auf Seite 405 deutlich, denn das Theoriekapitel steht entgegen der in den Sozialwissenschaften vorherrschenden Gewohnheit nicht am Anfang des Buches, sondern am Ende. Dieser Aufbau kann den Leseprozess erschweren, soll es aber ermöglichen, den induktiven historiographischen Forschungsprozess Salazars nachzuvollziehen. Des Weiteren will Salazar einen Beitrag zur empirischen Bestandsaufnahme leisten, denn die wenige Forschung zu sozialen Bewegungen in Chile beschränkten sich bisher meist auf die Arbeiter_innenbewegung.

 

In den ersten beiden Kapiteln beschreibt Salazar die Entwicklung der juristischen Rahmenbedingungen in Form der drei chilenischen Verfassungen. Seine kritische Analyse weist vor allem auf die Probleme dieser jeweils unter Diktatoren entstandenen Verfassungen hin, mit welchen sich die sozialen Bewegungen und die Entwicklung des poder popular, des Volkswillens, seit Gründung der Republik Chile konfrontiert sahen. Im dritten Kapitel folgt eine Beschreibung der vier wichtigsten sozialen Bewegungen der chilenischen Geschichte. Diese werden hier anhand der von Salazar entwickelten spanischen Originalbezeichnungen vorgestellt, da die langen, umständlich wirkenden Formulierungen bildlich vor Augen führen, dass wir es mit Phänomenen zu tun haben, für die es (noch) keinen eigenen Begriff gibt.

 

Die ersten beiden Bewegungen sind Produkte der spanischen Kolonialisierung, ihre Geschichte beginnt vor der Gründung der Republik Chile: Erstens „el movimiento social (ancestral) del pueblo mapuche“ (soziale Bewegung des (ursprünglichen) Mapuche-Volkes) und zweitens „el Movimiento social del “bajo pueblo” mestizo (marginal)“ (Bewegung des marginalisierten, mestizischen, gemeinen Volkes). Erst mit der Unabhängigkeit Chiles entstehen drittens „los movimientos social-ciudadanos que intentaron construir Estado“ (sozial-staatsbürgerliche Bewegung zur Staatskonstruktion) und viertens „la agitación “social” de los asalariados“ (soziale Bewegung der Lohnempfänger, nach europäischem Verständnis die chilenische Arbeiter_innenbewegung). Der Autor weist darauf hin, dass die aktuell in den Vordergrund gerückte Jugend- und Studierendenbewegung von ihm bereits in einem vorherigen Buch ausführlich dargestellt und deswegen nicht aufgenommen wurde (16).

 

Das zweite Bewegungsporträt verdient besondere Aufmerksamkeit: Die Verbindung zwischen der Gruppe der Mestizen zur Zeit der spanischen Kolonie, den abhängigen Landarbeiter_innen (peónes), den Landbesetzer_innen (pobladores) und diversen weiteren marginalisierten und oft außerhalb der legalen Struktur verorteten Bevölkerungsgruppen unter einem Begriff ist ein Novum. Dieses vom Autor neu entwickelte Konzept erlaubt es, die sozialen und politischen Organisationsstrukturen eines Teils der chilenischen Bevölkerung aufzuzeigen, welcher immer die Mehrheit darstellt(e), aber nie im Fokus der Wissenschaft stand. Die Beschreibung des Strebens nach Formen autonomer Selbstverwaltung, welches Salazar in dieser Bewegung zu erkennen meint, macht deutlich, was er unter souveräner Volksmacht versteht.

 

Im vierten Kapitel zeichnet Salazar eine sehr kritische Vision der aktuellen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung Chiles. Das fünfte Kapitel fasst die verschiedenen historischen Erfahrungen souveräner Volksmacht zusammen und strukturiert sie. In Kapitel sechs erfolgt die theoretische Einordnung der empirischen Studie. Seinem Selbstverständnis als souveräner chilenischer Bürger verleiht Salazar Ausdruck, indem er das Buch im siebten und letzten Kapitel mit der Präsentation eigener Ideen und Vorschläge für eine neue chilenische Verfassung abschließt.

 

Salazar zeigt ein Verständnis des Begriffs der Sozialen Bewegungen, das sich vom idealtypischen Bewegungsbegriff der sogenannten „entwickelten Welt“ (405) deutlich unterscheidet. Ausgehend von einem marxistisch geprägten Geschichtsverständnis betont er die Bedeutung sozialer Bewegungen für die (historische) Entwicklung der Gesellschaft und fokussiert damit auf deren Folgen. Er analysiert soziale Bewegungen vornehmlich in Bezug auf ihr Potenzial, souveräne, verfassungsgebende Macht auszuüben. Eine „vollendete“ soziale Bewegung zeichnet sich für Salazar deswegen dadurch aus, ihre Macht mit dem Ziel der Konstruktion einer neuen sozialen Ordnung einzusetzen; und zwar für eine Ordnung, welche ihren Bedürfnissen und Vorstellungen entspricht. Bewegungen, welche nur innerhalb des Systems agieren bzw. sich auf Widerstand oder Protest beschränken, werden als „unvollständige soziale Bewegungen“ (movimientos sociales inconclusos) in das Konzept integriert (347).

 

Es wird jedoch deutlich, dass die Betonung der Volkssouveränität, die durch soziale Bewegungen ausgeübt werde, historiographische Ungenauigkeiten produziert. Erstens konstatiert Salazar, dass in den verschiedenen Bewegungen ein spezielles Wissen existiert habe, welches sie befähigt habe, Souverän des jeweiligen Staates und seiner Verfassung zu werden. Solche Erfahrungen verbänden sich zu einer historischen Erinnerung („Memoria Histórica“) der Bevölkerung in Bezug auf ihre Souveränität. Dabei übergeht er, dass dieses Wissen in der Bevölkerung dispers und oft nur individuell verteilt ist. So fehlen Nachweise dafür, dass sich beispielsweise die Bewegung der Landbesetzer_innen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts tatsächlich auf Erfahrungen der Mapuche im 19. Jahrhundert oder die Plünderungen von Valparaiso um die Jahrhundertwende bezogen haben. Es ist kaum zu widerlegen, dass ein Großteil der Bevölkerung sich durch die gesamte Geschichte des Landes hindurch im Konflikt mit lokalen Eliten befunden hat und daraus diverse soziale Bewegungen entstanden. Aber es fehlt der Beleg für ein hieraus resultierendes allgemeines und die Zeit überdauerndes historisch-soziales Bewusstsein.

 

Des Weiteren ist kritisch zu betrachten, dass weder chilenische aktuelle Identitätsbewegungen wie die Frauenbewegung oder die Homosexuellen-Bewegung noch Bewegungen zu Umweltthemen – welche in den letzten Jahren enorm an Bedeutung gewonnen haben – in der Analyse berücksichtigt werden. Der Autor analysiert nur die Bewegungen, in denen er einen Ausdruck von Volkssouveränität erkennt. Dadurch läuft sein theoretisches Konzept Gefahr, entgegen des eigentlichen Ziels einer Erweiterung und Spezifizierung des Bewegungsbegriffs im chilenischen Kontext bestimmte Bewegungen auszuschließen und genau den Staats- und Elitenzentrismus widerzuspiegeln, den es eigentlich kritisiert.

 

Angesichts der schwierigen finanziellen Bedingungen der gesellschaftswissenschaftlichen Forschung in Chile mangelt es an profunden Studien zur chilenischen Gesellschaftsgeschichte. Nicht zuletzt deswegen kann die Studie Salazars trotz aller geäußerten Kritik als ein Meilenstein in der Erforschung und Analyse der Sozialgeschichte Chiles bewertet werden. Wer nicht über mindestens sehr gute Spanischkenntnisse verfügt (das Buch liegt nur in der Originalsprache vor), mit marxistischen Analysebegriffen nicht vertraut ist oder sich zum ersten Mal mit dem Land beschäftigt, findet hier nicht unbedingt einen leichten Einstieg. Jedem_r Kenner_in des Landes und seiner Geschichte kann die Lektüre die Perspektiven auf Chiles soziale und politische Entwicklung aber enorm erweitern.