Carlos Montemayor:
La
violencia de Estado en México. Antes y después de
1968
México : Debate 2010, 272 Seiten.
Sherin Abu Chouka
| sherin.abuchouka@fu-berlin.de
♦ La violencia de Estado en México ist das letzte Buch von Carlos Montemayor. Dieser
verstarb nach schwerer Krankheit im Februar 2010 an Krebs. Nachrufe auf den
Dichter, Historiker, Romanautor, Übersetzer und Förderer der indigenen Sprachen
und Kulturen in Mexiko machen deutlich, dass Montemayor sich in vielen
Bereichen engagierte. Er übersetzte Vergil, Catull und Sappho, veröffentlichte
ein Nahuatl-Spanisch Wörterbuch, beherrschte acht Sprachen fließend und war ein
begabter Tenorsänger. Der Dichter José Emilio Pacheco nannte Montemayor den
letzten großen Gelehrten Mexikos.
Bekannt wurde er
durch den historischen Roman „Krieg im Paradies“ (Diana 1991; dt. Assoziation A
1998), einem der ersten Bücher, das die verschüttete Geschichte der
mexikanischen Guerillabewegungen in den 1950er und 1960er Jahren beleuchtet.
Montemayor unterstützte den Aufstand des Ejército
Zapatista de Liberación Nacional (EZLN) in Chiapas und war Teil der
Vermittlungskommission zwischen mexikanischer Regierung und der Guerilla Ejército Popular Revolucionario (EPR).
Montemayor war überall dabei, resümierte die Tageszeitung La Jornada (Avilés 2010).
Carlos Montemayor
setzte sich sowohl in seinen Romanen als auch in seinen wissenschaftlichen
Studien mit den Ursachen für soziale Mobilisierungen und bewaffnete Erhebungen
im Mexiko des 20. Jahrhunderts auseinander und analysierte staatliche
Reaktionsmuster und Repressions-mechanismen. Mit der 2010 erschienenen
Aufsatzsammlung La violencia de Estado en
México hat er ein verständlich geschriebenes und quellenreiches Buch zur
staatlichen Gewalt gegenüber den sozialen Bewegungen in Mexiko vorgelegt. La violencia de Estado en México hat
bereits Eingang in akademische Seminare zur Erinnerungspolitik in Mexiko
gefunden und kann sicherlich fachübergreifend HistorikerInnen, PolitologInnen
und SoziologInnen in aktuellen Debatten über Repressionspolitik anregen.
In seiner
Aufsatzsammlung erweitert der Autor seine Hypothesen aus den Werken Los informes secretos (Moritz 1999), La guerilla recurrente (Universidad
Autónoma de Ciudad Júarez 1999) und Rehacer
la historia análisis de los nuevos documentos del 2 de octubre de 1968 en
Tlatelolco (Planeta 2000) durch Erkenntnisse aus neueren wissenschaftlichen
Untersuchungen und den nun zugänglichen historischen Dokumenten von Regierungen
und Geheimdiensten.
Die drei Aufsätze
aus dem Jahr 2009 veranschaulichen die Kontinuitäten staatlicher
Erklärungsmuster der Repressionspolitik gegenüber sozialen Bewegungen in der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und im beginnenden 21. Jahrhundert. Der
erste und längste Beitrag „Vor und nach 1968“ bietet eine konzise und komplexe
Übersicht zu den in den letzten zehn Jahren freigegebenen historischen
Materialien, die neben Armee und CIA-Dokumenten auch 22 Stunden Filmmaterial
über das staatliche Massaker vom 2. Oktober 1968 in Tlatelolco umfassen. Weit
über eine Aktualisierung hinausgehend, werden Kontinuitäten und Leerstellen in
den staatlichen Analysen sowie die interne Fraktionierung der mexikanischen
Institutionen sichtbar. Gegenüber vorherigen Analysen und durch zahlreiche
Quellenzitate belegt, setzt Montemayor die Beziehungen staatlicher und sozialer
AkteurInnen in den internationalen Kontext. So ist sowohl von der Enttäuschung
mexikanischer Guerilleros auf Kuba zu lesen, denen aus außenpolitischen
Erwägungen kein militärisches Training gewährt wurde. Als auch vom
doppelzüngigen Diskurs der mexikanischen Regierungen, zwischen kontinuierlicher
Repression gegenüber sozialen Bewegungen und der zeitweise progressiven
Außenpolitik, durch die Mexiko als Stimme Lateinamerikas (163) etabliert werden
sollte. Diese Politik sollte ein Gegengewicht zur Außenpolitik Kubas und Chiles
bilden und wurde, so die These des Autors, mit US-amerikanischer Zustimmung
durchgeführt (157-166). Ähnlich wie Lorenzo Meyer (Meyer 2004: 97-98) vertritt
auch Montemayor die These, dass es trotz diplomatischer Spannungen unter dem
mexikanischen Präsidenten Echeverría (1970-1976) nicht zu einem Bruch mit den
USA kam. Der Autor kann den US-amerikanischen Einfluss auf die mexikanische
Politik durch Zitate aus Protokollen zwischen US-Präsident Richard Nixon und
Echeverría belegen.
Die zwei folgenden
Aufsätze sind im Kontext von akademischen Tagungen des Colegio de México zur staatlichen Gewalt gegenüber sozialen
Bewegungen in Spanien und Iberoamerika im 20. Jahrhundert entstanden. Der
Konferenzbeitrag „Staatliche Gewalt gegenüber den mexikanischen sozialen
Bewegungen im 20. Jahrhundert“ ging außerdem in das Gerichtsverfahren über das
staatlich angeordnete, gewaltsame Verschwinden von Rosendo Radilla Pacheco ein,
in dem der mexikanische Staat 2010 vom Interamerikanischen Gerichtshof schuldig
gesprochen wurde. Beide Aufsätze untersuchen die Ursachen für die Entstehung
der mexikanischen Guerillabewegungen und sozialen Bewegungen von den 1950er
Jahren bis heute. Zudem stellen sie Hypothesen zur politischen und sozialen
Dimension der staatlichen Gewalt in Mexiko auf.
Bei der
Aufstandsbekämpfungs- und Sicherheitspolitik der mexikanischen Regierung führt
eine fehlende Ursachenforschung der Institutionen zu einer verkürzten und auf
Repression ausgerichteten staatlichen Strategie, die sich durch interne
Umstrukturierungen in den Institutionen nach Beginn des Kampfes gegen die
Drogenkartelle noch weiter festigt. Diese verkürzte Analyse nimmt den sozialen
Bewegungen und den bewaffneten Organisationen ihre politische Dimension. „Die
Charakterisierung dieser Bewegungen aus offizieller Perspektive, ist damit
schon Teil einer Kampfstrategie und keine Analyse um die sozialen Prozesse zu
verstehen.“ (180)[1].
Montemayor definiert
staatliche Gewalt nicht nur über die illegalen Praxen von Folter, Massaker und
das Verschwindenlassen, sondern stellt Armut, Analphabetismus, fehlende
Sozialleistungen u. ä. in letzter Konsequenz als Teil der staatlichen
Gewaltverhältnisse dar, dem viele soziale Konflikte zu Grunde liegen. „[…]
Soziale Nonkonformität verursacht nicht die Gewalt, sondern entsteht im
Gegenteil um die Gewalt zu beenden.”(183)[2]
Dies führe zum wiederkehrenden Phänomen sozialer Aufstände und
Guerillabewegungen in Mexiko.
Weiterführend weist
der Autor nach, wie mexikanische Gerichte durch eklatante Rechtsbeugungen
AktivistInnen der sozialen Mobilisierungen bspw. in Atenco und Oaxaca 2006
verurteilten. Er warnt, dass die Novellierung des Strafgesetzbuches von 2008,
die nun den Straftatbestand des Terrorismus beinhaltet, durch ihre weit
auslegbare Definition von Terrorismus zur Kriminalisierung von AktivistInnen
führen kann. „Wir können von staatlicher Gewalt gegenüber nichtkonformen
sozialen Bewegungen sprechen, wenn die Ermittlungen und die Herstellung von
Gerechtigkeit sowie die Gesetzgebungen mit der Repression von Polizei und
Militär zusammenwirken und von undifferenzierter Repression bis hin zu
Massakern und erzwungenem Verschwindenlassen reichen.“ (183)[3].
Insgesamt besticht La violencia de Estado en México durch
umfassende Quellenzitate, die dem/r LeserIn die Sprache und das politisches
Klima nahebringen, ferner durch eine mit zahlreichen Beispielen belegte klare
Analyse der Kontinuitäten in der Sicherheitspolitik des mexikanischen Staates
und durch seine scharfzüngige Kritik an den bestehenden mexikanischen
Verhältnissen.
Die These, dass die
Drogenbekämpfungsprogramme der Regierung als Rechtfertigung dienen um gegen
soziale Bewegungen vorzugehen, wird implizit zugrunde gelegt. Damit bleiben die
Debatten über die Beendigung des Drogenkrieges, die Auswirkungen der
Militarisierung Mexikos sowie die Zusammenarbeit der mexikanischen
Sicherheitsorgane mit CIA und DEA im Kampf gegen die Drogenkartelle ausgespart.
Der Autor positioniert sich, indem er eine strikte Trennung zwischen der
Repressionspolitik gegenüber sozialen Bewegungen und dem staatlichen Vorgehen
gegenüber den Drogenkartellen vornimmt.♦
Bibliographie:
Meyer,
Lorenzo (2004): La guerra fría en el mundo periférico: el caso del régimen
autoritario mexicano. La utilidad del anticomunismo discreto, In: Spenser,
Daniela (ed.) Espejos de la Guerra Fría:
México, América Central y el Caribe, México: Miguel Ángel Porrua, 95-117.
Montemayor, Carlos (1991): Guerra en el Paraíso. México, Editorial
Diana; deutsch unter dem Titel: (1998) Krieg
im Paradies. Hamburg, Verlag Libertäre Assoziation.
Montemayor,
Carlos (1999): Los informes secretos,
México: Editorial Moritz.
Montemayor,
Carlos (1999): La guerilla recurrente,
México: Universidad Autónoma de Ciudad Júarez.
Montemayor,
Carlos (2000): Rehacer la historia,
análisis de los nuevos documentos del 2 de octubre de 1968 en Tlatelolco,
Mexico: Editorial Planeta.
Avilés,
Jaime (2010): Carta a una mariposa, In: La Jornada, 06/03/2010, at:
http://www.jornada.unam.mx/2010/03/06/opinion/004o1pol (14.01.2012).
[1] “La
caracterización de tales movimientos [las guerrillas] desde la perspectiva
oficial forma parte ya de una estrategia de combate y no de un
análisis para comprenderlos.”
[2] “En este caso, la inconformidad
social no inicia la violencia; por el contrario, surge para que esa violencia
cese.”
[3] Podemos
hablar de la violencia de Estado en movimientos de inconformidad social cuando
la procuración y la impartición de justicia, y aún la legislación, concurren
con la represión indiscriminada hasta masacres y desapariciones forzadas.