Mariana Galvani,
Karina Mouzo, Natalia Ortiz Maldonado, Victoria Rangugni, Celina Recepter,
Alina Lis Rios, Gabriela Rodríguez & Gabriela Seghezzo:
A la inseguridad
la hacemos entre todos: prácticas académicas, mediáticas y policiales
Buenos Aires: Hekht libros, 2010, 280 Seiten.
Anja Feth | a.feth@fu-berlin.de
♦ Städtische
Unsicherheit ist ein Thema, das in der argentinischen Politik und Gesellschaft
spätestens seit Ende der 1990er Jahre fortwährend präsent ist. Seitdem wurden unzählige
Fachtagungen veranstaltet, Regierungsprogramme wurden aufgelegt und wieder
eingestellt, Lehrstühle und Studienprogramme wurden eingerichtet, und es
vergeht keine politische Wahl, in der das Thema nicht ausgeschlachtet wird. Im
Einklang damit ist die Zahl der Publikationen über städtische Unsicherheit und
Polizei im Laufe der Jahre stetig angestiegen. Besonders lesenswert war zuletzt die
Monografie „A la inseguridad la hacemos entre todos: prácticas académicas,
mediáticas y policiales“, die im Jahr 2010 im Hekht Verlag erschienen ist.
Das Buch,
geschrieben von einem achtköpfigen Autorinnenkollektiv, liest sich als
kritische, von der Lektüre Foucaults angeregte Intervention in die
innerargentinische Auseinandersetzung mit städtischer Unsicherheit und
Polizeigewalt. Erklärtes Ziel der Autorinnen ist es, die Art und Weise zu
problematisieren, wie verschiedene diskursive und materielle Praktiken
„Unsicherheit“ als „Problem“ hervorbringen (13). Im Fokus stehen z. B. die
Thematisierung von Unsicherheit in den Medien oder der Einsatz tödlicher Gewalt
durch die Polizei. Ihrem Ansatz entsprechend liefern die Autorinnen keine
Antwort auf die Frage, wie dem „Problem der Unsicherheit“ politisch beizukommen
ist. Vielmehr beabsichtigen sie, neue Fragen zu stellen und herrschende
Gewissheiten ins Wanken zu bringen – z. B. die Annahme, dass „Unsicherheit“
unabhängig von gesellschaftlichen Diskursen als gegebene „Realität“ existiert.
Tatsächlich sei Unsicherheit eine soziale Konstruktion und es gelte nach den
Existenzbedingungen für ein solches Phänomen zu fragen (13-14).
Das Buch gliedert
sich in drei Teile mit insgesamt zehn Kapiteln. Der erste Teil (Hacer pensar,
Kap. 1-3) rekonstruiert die innerargentinische Auseinandersetzung mit Polizei
und städtischer Sicherheit (Kap. 1), erläutert den epistemologischen Zugang der
Autorinnen (Kap. 2) und analysiert, wie Polizeigewalt im akademischen Kontext
Argentiniens behandelt wird (Kap. 3). Der zweite Teil (Hacer decir, Kap.
4-7) ist stärker empirisch ausgerichtet und untersucht den medialen
Unsicherheitsdiskurs sowie die Perspektive der Polizei auf ihre Arbeit. Dafür
herangezogen werden die Berichterstattung über Unsicherheit in den Printmedien
(Kap. 4 und 6); das Fernsehmagazin „Policías en Acción“ (Kap. 5) sowie
qualitative Interviews mit (nicht näher spezifizierten) Polizeibeamten (Kap.
7). Im dritten Teil (Hacer morir y vivir, Kap. 8-10) werden das Regieren
der Unsicherheit und die Praxis der tödlichen Polizeigewalt erneut theoretisch
reflektiert und mit Foucaults Konzept der Biomacht verknüpft.
Die Publikation
entstand aus einem gemeinsamen Arbeitsprozess der Autorinnen am Instituto Gino
Germani der Universidad de Buenos Aires. Dort waren sie in das
Forschungsprogramm über soziale Kontrolle von Juan S. Pegoraro involviert. Auch
wenn das Buch Unzulänglichkeiten aufweist, leistet es einen wichtigen Beitrag
für die lokale und regionale Debatte zum Thema städtische Unsicherheit und
Polizeigewalt. Positiv hervorzuheben ist vor allem der kritische und
theoretisch fundierte Ansatz, der das konstruktivistische Moment des
Sicherheitsdiskurses beleuchtet und mit Hilfe empirischer Analysen aufzeigt,
dass Akademiker_innen, Medien und Polizei an der Konstruktion ihres
Gegenstandes maßgeblich beteiligt sind. Hier unterscheidet sich das Buch
wohltuend von vielen anderen Publikationen aus der Region, die das Thema mit
einem allzu alarmistischen Unterton behandeln, normativ überfrachten oder
vorschnelle Lösungsansätze präsentieren.
Die Lektüre ist all
jenen zu empfehlen, die zu städtischer Sicherheit bzw. Polizei in Argentinien
arbeiten und/oder sich der Thematik aus der Perspektive Foucaults annähern
wollen. Neben den empirischen Analysen im zweiten Teil lohnt vor allem Kapitel
acht im dritten Teil des Buches. Hier wird gefragt, wie tödliche Polizeipraktiken
„produktiv“, im Hinblick auf die Hervorbringung von Körpern und Subjektivitäten
gedacht werden können. Was sind die Voraussetzungen solcher Tötungen? Wie
werden sie naturalisiert, unsichtbar gemacht und als gesellschaftlich notwendig
konstruiert?
Kritisch ist
anzumerken, dass das Buch die Erwartungen, die im Inhaltsverzeichnis geweckt
werden, nur teilweise erfüllt. Die allgemein gehaltenen Titel des ersten und
dritten Kapitels vermitteln den Eindruck, dass in den jeweiligen Analysen auch
internationale Studien zu Polizei und Polizeigewalt berücksichtigt werden.
Leider werden die Autorinnen dem nicht gerecht und beziehen sich lediglich auf
argentinische Literatur. Außerdem gibt es Redundanzen im Hinblick auf die
theoretische Fundierung der Beiträge, die durch eine bessere Endredaktion
vermeidbar gewesen wären. Im Gegenzug wäre es bei den empirischen Analysen
wünschenswert gewesen, mehr über das konkrete methodische Vorgehen zu erfahren.
Zum Beispiel wird die Auswahl des Materialkorpus und der Untersuchungs-zeiträume
teilweise nicht begründet. Im siebten Kapitel bleibt ungeklärt, aus welcher
Polizei die befragten Beamten stammen. Handelt es sich um Mitglieder der
Bundespolizei, die für die Stadt Buenos Aires zuständig ist, oder wurde mit
Angehörigen der Polizei der Provinz Buenos Aires gesprochen? Weiterhin bleibt
offen, nach welcher Vorgehensweise das Text- und Bildmaterial analysiert wurde.
Das vierte Kapitel
weist eine besondere Unstimmigkeit auf. Die Analyse des medialen
Unsicherheitsdiskurses führt die Autorinnen zu der Feststellung, dass der Staat
darin zugleich als Ursache von Unsicherheit, wie auch als Lösungsinstanz für
dieses Problem thematisiert wird. So weit so gut. Gleichwohl ist die Paraphrasierung
dieser Beobachtung mittels eines medizinisch-therapeutischen Vokabulars – wie
in folgendem Zitat – problematisch: „[D]er Staat wird zum phármakon: zur
Ursache und Kur des Übels zugleich. Eine Ambivalenz, die den Staat [...] als
Krankheit und Heilmittel betrachtet” (93).[1] Weiterhin
sprechen die Autorinnen wiederholt von einer „diagnostisch-therapeutischen
Matrix“ (89, 110, 116, 117). Formulierungen
dieser Art suggerieren eine mediale Verknüpfung von Unsicherheits- und
medizinischem Diskurs, die sich zumindest aus den präsentierten Textstellen in
keiner Weise ableiten lässt. Hier nehmen die Autorinnen offenbar selbst eine
Konstruktion vor, die von ihren Leser_innen schnell aufgegriffen werden könnte,
zumal sich die Autorinnen auch in weiteren Kapiteln des Buches auf diese
Konstruktion beziehen. Aus Sicht der Foucaultschen Diskursanalytik ist dies ein
schwerwiegender „Fauxpas“. Wer Diskurse mit Foucault untersuchen möchte, muss
solch wirkmächtige sprachliche Konstruktionen im empirischen Material
nachweisen und darf diese nicht selbst in die Analyse einführen.
Insgesamt jedoch
leistet das Buch durch seinen kritischen, de-konstruktivistischen Ansatz einen
wichtigen Beitrag zur Debatte über Sicherheit und Polizei in Argentinien. In
dieser findet sich eine solche Perspektive viel zu selten. Außerdem stellt es
das theoretische Rüstzeug zur Verfügung, ähnliche Fragen in anderen empirischen
Kontexten zu bearbeiten.♦
[1] “El estado se conforma así como
phármakon: causa y cura de los males al mismo tiempo. Una ambivalencia por la
cual el estado es simultáneamente la enfermedad y el remedio“ (Hervorh. i. O.).