Memorial da Democracia
Online: http://memorialdademocracia.com.br, Brasilien.
Rezensiert von Franka Bindernagel
Freien Universität Berlin (Alumna)
Die Website „Mahnmal der Demokratie“ versteht sich als multimediales
Museum der brasilianischen Geschichte des 20. und beginnenden 21.
Jahrhunderts. Sie stellt die Entwicklung der Demokratie, der
Militärdiktatur und des Widerstands, die Geschichte der politischen
Linken, der Arbeiterbewegung und einzelner sozialer Bewegungen dar.
Weiterhin werden wirtschaftliche und infrastrukturelle Entwicklungen
sowie wesentliche Sozialreformen abgebildet, die das Land
veränderten. Auch Kulturschaffende und ihr Einfluss auf
gesellschaftliche Veränderungen werden hör- und sichtbar gemacht.
Das Museum veranschaulicht die Herausforderungen der Demokratie und
die Defekte des politischen Systems in Brasilien. Es will die Kämpfe
für mehr Demokratie und mehr soziale Gerechtigkeit sowie
insbesondere die Rolle der Linken sichtbar machen und in der
kollektiven Erinnerung wachhalten.
Mit dem Internetauftritt soll eine weite Verbreitung und einfache
Erreichbarkeit der Information erzielt werden. Am 1. September 2015
ging das Museum online. Seitdem wird es kontinuierlich
weiterentwickelt. Getragen wird es vom Instituto Lula, einer
politischen Stiftung mit Sitz in São Paulo, die sich für mehr
Demokratie und den Abbau der sozialen Ungleichheit einsetzt. Das
Institut pflegt auch das politische Erbe seines Namensgebers, des
ehemaligen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva. Das Museum ging
aus dem Projeto República der Universidade Federal de Minas Gerais
in Belo Horizonte hervor, das 2001 mit dem Ziel entstand,
verfügbares Archivgut einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu
machen und die Debatte zur brasilianischen Zeitgeschichte zu
stimulieren. Die beteiligten Wissenschaftler_innen kooperierten von
2011 bis 2014 mit der Nationalen Wahrheitskommission. Zu den
Kurator_innen des virtuellen Museums gehören die bekannte
Wissenschaftlerin Heloisa Murgel Starling und der renommierte
Journalist Vladimir Sacchetta.
Die Inhalte des Museums, die in Portugiesisch und teilweise in
Spanische verfügbar sind, umfassen die Zeit von 1930 bis 2010. Sie
sind in fünf thematische Bereiche aufgeteilt und chronologisch
geordnet: Der Abschnitt „1930–1944“ behandelt den „Nationalstaat,
aber ohne Demokratie“, der Abschnitt „1945–1963“ ist mit dem Titel
„Demokratie der Massen“ überschrieben und der Abschnitt „1964–1984“
umfasst die Zeit der Militärdiktatur und trägt den Titel „21 Jahre
des Widerstands und des Kampfes“. Die zwei nachfolgenden Abschnitte
„1985–2002 Wiederaufbau der Demokratie“ und „2003–2010 Mehr
Demokratie, mehr Möglichkeiten“ sind der Redemokratisierung und den
Präsidentschaften Lulas gewidmet. Die Abschnitte sind chronologisch
aufgebaut und die einzelnen Einträge nach Jahren und Stichtagen
geordnet. In den Einträgen werden zentrale Themen und Akteure
behandelt. Über eine bebilderte Zeitleiste ist es den Nutzer_innen
möglich, die Stichtage durchzugehen und sich einen Überblick zu
verschaffen. Eine Suchfunktion ermöglicht das schnelle Auffinden von
Ereignissen und Personen. Einzelne Themen, die ausführlich behandelt
werden, sind in der Reihe Extras zusammengefasst.
Die gesamte Webseite, die auch für Smartphones optimiert ist, lässt
sich leicht handhaben und ist gut strukturiert. Die Einträge können
via Twitter und Facebook geteilt werden und alle Filmausschnitte,
die gezeigt werden, sind über den Youtube-Kanal des Museums
abrufbar. Außerdem ist das Museum mit Fotos, Plakaten, Faksimiles
und Flyern auf Instagram vertreten sowie mit Audios auf SoundCloud.
Jedoch verfügt es nicht über interaktive Elemente und die
Speicherung einzelner Einträge als PDF ist nicht möglich. Die
Nutzungsfrequenz der Webseite ist schwer abzuschätzen, da das Museum
keine Zugriffszahlen veröffentlicht. Über 22.000 Nutzer_innen folgen
dem Museum auf Facebook.
Pro Abschnitt sind zwischen 148 und 280 Einträge und fünf bis 13
Extras verfügbar. Die Einträge bieten vielfältige Informationen und
umfangreiches Anschauungsmaterial. So werden zum Tod des
Journalisten Vladimir Herzog am 25. Oktober 1975 in einem Text die
Umstände der Verhaftung im berüchtigten Folterzentrum DOI-Codi in
São Paulo und der Tod Herzogs dargelegt, sowie der Versuch der
Militärs, den Mord zu verschleiern. Die nachfolgenden öffentlichen
Proteste durch Kirchen, Journalist_innen und Teile der Bevölkerung
von São Paulo markierten einen Wendepunkt in der Geschichte des
Widerstands gegen die Diktatur. Mehrere Fotos und ein Video zeigen
den ökumenischen Trauergottesdienst für Herzog in der Kathedrale am
Praça de Sé. Auf einem Faksimile ist ein zeitgenössischer
Zeitungsartikel zu lesen und in einem Audio lässt sich ein Song von
1976 hören, der die Geschichte Herzogs zum Thema hat.
Der Abschnitt über die zwei Präsidentschaften Lulas verfügt
erwartungsgemäß über zahlreiche Einträge zu den Sozialreformen des
Präsidenten, die ein Kernstück seines politischen Programms waren.
Dazu gehörten die Programme Fome Zero zur Bekämpfung des Hungers und
Bolsa Familia zur sozialen Absicherung der Ärmsten. Ebenso werden
Fortschritte beim Abbau des institutionellen Rassismus dargestellt
und bei der schrittweisen Inklusion von gesellschaftlichen Gruppen,
die bis dahin an den gesellschaftlichen Rand gedrängt waren. Die
Gewährleistung der demokratischen Teilhabe war ein weiteres Anliegen
Lulas. Auch Krisen der Regierung werden benannt, so etwa der
jahrelange Korruptionsskandal Mensalão. Der Abschnitt beschreibt
eine Erfolgsgeschichte des Präsidenten, der das Land so stark
verändert hat wie kaum jemand vor ihm. Die Widersprüche und
Unzulänglichkeiten, die die brasilianische Linke heute kritisiert,
bleiben indes unterbelichtet.
Die Webseite ist in Schwarz-Weiß und Gelb gehalten. Die Auswahl der
Farbe Gelb spielt offensichtlich auf die Farbe der oppositionellen
Kampagne Diretas-Já (Direkte Wahlen Jetzt!) von 1983 an, die die
Macht der Militärs in Frage stellte und direkte
Präsidentschaftswahlen forderte. Das Museum steht in der Tradition
der linken Widerstandsbewegung, aus der 1980 Lulas Arbeiterpartei PT
und 1983 der größte brasilianische Gewerkschaftsdachverband CUT
hervorgingen.
Bis Anfang 2017 konnten die Nutzer_innen zur Einführung in das
Museum ein Video sehen, in dem ein großer historischer Bogen von der
Kolonisierung Brasiliens bis zu den Präsidentschaften Lulas und
Dilma Rousseffs geschlagen wurde. Die nationale Geschichte wurde als
langer Kampf für Menschenrechte und Demokratie erzählt und fand ein
verklärendes Ende am Schluss des Videos. Der Film stellte Lula und
Rousseff als Erfüllung der Hoffnung auf nationale Erneuerung dar –
ein Ausgang, der die Erwartungen Vieler in der brasilianischen
Linken widerspiegelte. Mit der Amtsenthebung Rousseffs 2016, der von
der Linken als Staatsstreich gewertet wird, und einer anhaltenden
schweren Wirtschaftskrise, die rechten politischen Kräften Auftrieb
gibt, sind die Hoffnungen der Linken in Frustration umgeschlagen.
Das Video ist aus dem Museum entfernt worden.
Das Museum vertritt einen politischen Standpunkt auf der Grundlage
wissenschaftlicher Erkenntnisse und Standards. Die virtuelle
Ausstellung bildet in weiten Teilen den aktuellen Stand der
geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisse ab, ist sorgfältig
recherchiert und sachkundig kuratiert. Gleichzeitig positioniert sie
sich im Kampf um die historische Deutungshoheit: Sie schreibt eine
Geschichte Brasiliens von unten, eine Geschichte, wie sie viele aus
der brasilianischen Linken sehen, eine Geschichte des Widerstands
gegen Menschenrechtsverletzungen und des Kampfes für mehr Demokratie
und gesellschaftliche Teilhabe.