Jorge Atria (Hg.) (2014): Tributación en sociedad. Impuestos y redistribución en el Chile del siglo XXI
Santiago de Chile: Uqbar Editores, 236 S.


Rezensiert von Juan Esteban Zorzin
Freie Universität Berlin


Gegenwärtig entwickelt sich im Hinblick auf die Länder Lateinamerikas ein neues Forschungsinteresse, das sich mit Themen wie staatlicher Umverteilung, Steuersystemen, Steuerreformen und Staats- bzw. Sozialausgaben auseinandersetzt. Diese Entwicklung ist in zweifacher Hinsicht begrüßenswert. Zum einen ist sie vor dem Hintergrund der in Lateinamerika extrem ungleichen Einkommens- und Vermögensverteilung von hoher Relevanz. Zum anderen bezieht dieses neue Forschungsinteresse verstärkt einen politik-ökonomischen Ansatz ein. Dadurch werden wissenschaftliche Analysen des Fiskalstaats ermöglicht, in denen ökonomische, gesellschaftliche und politische Prozesse zusammenhängend gedacht werden. Diese Perspektive wird in dem von Jorge Atria (Soziologe am Centro de Estudios de Conflicto y Cohesión Social) herausgegebenen Sammelband verfolgt. Bereits im Einführungskapitel wird darauf hingewiesen, dass die Steuerthematik eine durchaus komplexe Untersuchungsdimension darstellt, die entscheidend zum Verständnis sozialer, ökonomischer und politisch-institutioneller Entwicklungsprozesse in Lateinamerika beiträgt.

Der Sammelband vereint acht Beiträge sowohl von etablierten, wie noch am Anfang ihrer Laufbahn stehenden SoziologInnen, ÖkonomInnen, JuristInnen und IngenieurInnen aus Chile. Aus verschiedenen Blickrichtungen befassen sie sich mit aktuellen Debatten, Problemen und Herausforderungen der Besteuerung in ihrem Land. Für die LeserInnen ergibt sich durch diese multidisziplinäre Herangehensweise eine thematisch weitblickende sowie theoretisch-methodologisch abwechslungsreiche Auseinandersetzung mit dem Phänomen Steuern und Umverteilung in der (chilenischen) Gesellschaft.

Das Steuersystem in Chile bietet sich als Untersuchungsgenstand an, da in Chile die Versorgung mit meritorischen Gütern, wie Bildung, Gesundheit oder Wohnraum, primär marktwirtschaftlich organisiert ist. Durch ein fiskalpolitisches Paradigma, in dem Sozialausgaben insbesondere den ärmsten Bevölkerungsgruppen zugutekommen, gewährleistet der chilenische Staat seinen BürgerInnen sozialpolitisch eine Mindestversorgung. Gleichzeitig kommt in Chile ein Großteil der Steuereinnahmen durch die als regressiv geltende Mehrwertsteuer zustande. Die Einkommensbesteuerung von Personen und Unternehmen ist uneinheitlich definiert und bietet den Anreiz, sie legal zu umgehen. Hinzu kommt, dass ausländische Bergbauunternehmen lediglich niedrige Steuersätze abführen müssen. Weiterhin existiert in Chile eine ausgesprochen ungleiche Einkommensverteilung. Gesellschaftspolitische Reformvorstöße, die darauf abzielten diese Zustände zu verändern, scheiterten wiederholt am Widerstand konservativer Parteien im Parlament und am Einfluss von Unternehmerverbänden.

Dieser gesellschaftspolitische Kontext wird im vorliegenden Sammelband anhand breit angelegter Untersuchungen des chilenischen Fiskalsystems sowie spezifischen Analysen im Hinblick auf z.B. den Bergbausektor oder die öffentliche Meinung aufgegriffen. Eines der Anliegen der AutorInnen ist es, mit wissenschaftlichen Fakten zum gegenwärtigen Steuerdiskurs innerhalb der chilenischen Öffentlichkeit beizutragen. Hierbei soll insbesondere durch eine Erweiterung rein technischer Analysen, welche die Betrachtungen von Steuern stark auf wachstums- und investitionshemmende Effekte verkürzen, das als vermeintliches ‚ExpertInnengebiet’ geltende Thema Steuern entzaubern werden. Hierzu sollen neu erarbeitete sozialwissenschaftliche Perspektiven, Debatten und Konzepte (wie citizenship, state-building oder fiscal contracting) einfließen und für umfassendere Problematisierungen von Steuern unter gesellschaftlichen Rahmenbedingungen fruchtbar gemacht werden.

Das Buch ist in zwei Teile gegliedert. In den vier Artikeln des ersten Teils findet sich zunächst eine eingehende Beschreibung samt Evaluierung des chilenischen Fiskalsystems: Während die Ökonominnen Claudia Sanhueza und Javiera Lobos im ersten Artikel Aspekte wie Steuer- und Staatsquote, Steuerstruktur, Umverteilungspotenzial durch Steuern und Ausgaben, Ausgabeneffizienz sowie die durch Steuern generierten Verhaltensweisen beleuchten, liefern die SoziologInnen Guillermo Wormald und Ana Cárdenas im dritten Artikel eine ausführliche historische Analyse der Entwicklungen im Institutionengefüge des chilenischen Fiskalstaats. Hier werden sowohl Schwächen als auch Stärken des Fiskalsystems deutlich. Einerseits zeigen Sanhueza und Lobos, dass im Hinblick auf Chiles Steuerstrukturen Verbesserungsbedarf besteht: die Steuerquote ist niedrig, eine Umverteilung über Steuern findet nicht statt und auf gesellschaftlicher Ebene fehlt ein Verständnis universaler bzw. rechtebasierter Sozialpolitik. Anderseits wurden auf dem institutionellen Terrain im Laufe der letzten 25 Jahre Fortschritte erzielt. So zeigen Wormald und Cárdenas in ihrer institutions- und organisationszentrierten Analyse der chilenischen Steuerbehörde SII (Servicio de Impuestos Internos), dass die Steuervereinnahmung, dank eines konsequenten personellen und technologischen Modernisierungsprozesses der Behörde, effizienter und effektiver wurde. Im zweiten und im vierten Beitrag, verfasst von den Juristen Constanza Salgado und Fernando Atria bzw. dem Soziologen Jorge Atria, geht es jeweils um eine Verbindung der Steuerthematik mit zwei größeren Debatten, die jedoch in Chile bislang kaum miteinander in einen Zusammenhang gebracht wurden: Die Finanzierung sozialer Grundrechte einerseits und der persistenten Ungleichheit andererseits. Den Autoren zielen darauf ab, einem Steuerverständnis entgegenzuwirken wie es in großen Teilen der primär marktwirtschaftlich organisierten chilenischen Gesellschaft aufgefasst wird: Steuern als Preise für die Bereitstellung öffentlicher Güter. Stattdessen plädieren sie für einen universellen Zugang zu öffentlichen Gütern (v.a. Bildung) dessen Finanzierung auf steuerlicher Leistungsfähigkeit basiert.

Im zweiten Teil des Sammelbandes untersuchen die AutorInnen einzelne Aspekte des chilenischen Fiskalstaats. Beispiele hierfür sind dessen öffentliche Wahrnehmung, konkrete Steuerarten oder die Besteuerung spezifischer Wirtschaftssektoren. Der besonders interessante fünfte Artikel des Psychologen Juan Carlos Castillo und des Soziologen Francisco Olivos liefert eine explorative Studie zur öffentlichen Wahrnehmung von Steuern und Verteilungspräferenzen im Land. Auch die aktuelle Debatte um die Neugestaltung der Unternehmensbesteuerung im Zuge der von Präsidentin Bachelet 2014 angekündigten Steuerreform, findet dank des Beitrags des Juristen Francisco Saffie Eingang in den Sammelband. Im folgenden siebten Kapitel analysieren der Soziologe Andrés Biehl und der Ingenieur Germán Vera mittels eines quantitativen Modelles und anhand der Analyse des historischen Entwicklungsprozesses die Einflussfaktoren für ein stabiles Besteuerungsniveau des Bergbausektors. Schließlich untersucht der Jurist Matías Pascuali im letzten Kapitel die Vereinbarkeit von unternehmerischen Steuerplanungsstrategien und corporate social responsability. Unter Einbezug aktueller Debatten und Tendenzen in Großbritannien (vgl. die sogenannte „Starbucks-Affäre“), plädiert er dafür, auch in der chilenischen Fiskalkultur die Abführung von Unternehmenssteuern innerhalb des sozialen Verantwortungsbereichs unternehmerischer Tätigkeiten zu verorten.

Insgesamt löst der Sammelband in fachkompetenter Weise sein Versprechen einer vielschichtigen und interdisziplinären Analyse von Steuern und Umverteilung ein, indem er Steuern und Umverteilung innerhalb vielschichtiger gesellschaftlicher Prozesse und aus verschiedenen disziplinären Blickwinkeln analysiert. Dass lediglich Chile steueranalytisch im Fokus steht, macht das Buch für an allgemeiner Steuerpolitik interessierte LeserInnen nicht minder interessant, da hier mittels fallbezogener Behandlung staatlicher Umverteilung und Steuern ein universelles gesellschaftliches Phänomen behandelt wird. Interessant wäre darüber hinaus ein abschließendes Kapitel gewesen, in dem die AutorInnen die Ergebnisse ihrer Beiträge zusammenführen. Dadurch ließe sich möglicherweise auch eine Perspektive im Hinblick auf konkrete Vorschläge zur Umsetzung von umverteilender Besteuerung ‚in’ Gesellschaften entwickeln. Denn diesbezüglich lässt der Sammelband einen spannenden und relevanten Punkt unberührt: die Frage unter welchen gesellschaftspolitischen Kräfteverhältnissen im Chile des 21. Jahrhunderts ein auf progressiver Besteuerung und universellen Sozialrechtezugang basierender Umverteilungsprozess realisiert werden könnte.