Enrique Arias & Daniel Goldstein (Hrsg.):

Violent democracies in Latin America

Durham und London: Duke University Press,  2010, 324 Seiten.

 

Eva Bräth  | eva@braeth.de

 


Weder Gewalt noch Demokratisierung sind neue Gegenstände der Lateinamerikastudien. In den 1970er und 1980er Jahren richtete sich die Aufmerksamkeit der sozialwissenschaftlichen Forschung auf Formen politischer Gewalt, die mit den Militärdiktaturen und Guerilla-Bewegungen auf dem Subkontinent verbunden waren. Mit dem Einsetzen der „Dritten Welle“ der Transformation rückte die (Re)Demokratisierung der lateinamerikanischen Länder ins Zentrum der akademischen Auseinandersetzung. Aus der Perspektive der Transitionsforschung werden die Konfigurationen von Unsicherheit und Gewalt, die auch nach der Überwindung der autoritären Regime die Region bestimmen, mit Kategorien beschrieben, die den defizitären Charakter der formal demokratischen Systeme zum Ausdruck bringen. An diesem Punkt setzen die beiden Herausgeber des Sammelbandes, der Politikwissenschaftler Enrique Arias und der Ethnologe Daniel Goldstein, an und bieten eine alternative Perspektive auf etablierte Forschungsgegenstände.

Die Kernidee ihres Konzepts Violent Pluralism besteht darin, die Gewaltphänomene in der Region nicht mehr per se als Indikator für Staatsscheitern, sondern als integrativen Bestandteil der institutionellen Strukturen zu begreifen, der zu ihrer Stabilisierung und Legitimation eingesetzt wird (4). Ins Zentrum der Forschungspraxis rückt die Untersuchung der Fragen, wie Gewalt die politische Praxis und Subjektivitäten prägt und als Instrument von Herrschaft und Widerstand in Erscheinung tritt (4). Damit ist der Anspruch eines analytischen Zugangs verbunden, der die Interaktionen von Gewaltakteuren zu erklären versucht, anstatt sie als defizitäre Abweichung vom westlichen Demokratiemodell zu fassen (26f.). Unter dem Dach dieser konzeptionellen Neuausrichtung präsentiert der Band acht Aufsätze, die unterschiedliche Aspekte der Sicherheitsthematik beleuchten und vom Vorwort der Herausgeber und den abschließenden Reflexionen von Enrique Arias eingerahmt werden.

Die Einleitung gibt Aufschluss über die methodologischen Grundzüge und normativen Prämissen des Konzepts Violent Pluralism. Der Begriff bezieht sich auf die Vielfalt an Gewaltakteuren und ihre Beziehungen zueinander (4). Das Konzept hebt auf die Verknüpfungen der unterschiedlichen politischen und sozialen Räume ihres Handels ab und stellt damit klare Grenzziehungen zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren, demokratischer polity und undemokratischen „Abweichler_innen“ in Frage (5, 21). Die Herangehensweise grenzt sich von der Demokratisierungsforschung ab, deren analytisches Potential als begrenzt und normativer Maßstab als problematisch eingestuft wird (7). Arias und Goldstein vertreten einen interdisziplinären Ansatz, der ethnologische bottom-up-Analysen mit politikwissenschaftlichen Untersuchungen auf der Makroebene politischer Systeme verbindet (5).

Die methodologische Breite der Forschungsgegenstände spiegelt sich in der Diversität der Aufsätze wider. Die Fallstudien stammen aus Räumen, die sich im Ausmaß der Gewalt stark unterscheiden und beziehen sich auf verschiedene Aspekte des Violent Pluralism. So trägt der Beitrag von Diane Davis zur historischen Einrahmung des Konzeptes bei und erklärt die Persistenz der Gewalt in Mexiko als Folge politischer Schlüsselentscheidungen, die die Kapazitäten der formalen Institutionen und zivilgesellschaftlicher Akteure beschränken. Mary Roldán präsentiert die Gleichzeitigkeit von Gewalt und Demokratie in Kolumbien als Paradebeispiel des Violent Pluralism. Anhand der Erfahrungen einer basisdemokratischen NGO illustriert sie die Grenzen des Engagements für Gewaltfreiheit in einem Umfeld, das von den Sicherheitsbedrohungen seitens paramilitärischer Gruppen und Guerillas einerseits sowie den repressiven Gegenstrategien des Staates andererseits strukturiert wird. Im Einklang damit gelangt María Clemencia Ramírez Beitrag durch die Analyse der wechselseitigen Bezogenheit von Bewohner_innen, Paramilitärs, Guerillas und staatlichen Akteuren im Südwesten Kolumbiens zu der These, dass politische Gewalt und Illegalität dem Demokratiemodell in den Peripherien des Landes inhärent sind. 

Zwei Untersuchungen über Gewalt-phänomene in Buenos Aires zeigen, dass  Möglichkeitsbedingungen des Violent Pluralism auch in Kontexten, die sich durch ein vergleichsweise niedriges Gewaltniveau auszeichnen, gegeben sind. Javier Auyeros Betrachtung von Lebensmittelplünderungen stellt die binäre Kategorisierung von Gewaltakteuren und ordnungsstiftenden Staatsbediensteten in Frage. Ruth Stanleys Studie rekonstruiert auf der Basis von qualitativen Interviews mit Opferangehörigen Motive, Formen, Wahrnehmungen und Reaktionen auf illegale Polizeigewalt. Sie deutet an, wie die von den Herausgebern geforderte Einbeziehung der Bürger_innenperspektive innerhalb einer kritischen Sicherheitsforschung gestaltet werden könnte. Liliana Bobeas Beitrag über urbane Gewalt in der Dominikanischen Republik sticht durch die Verbindung eines ethnographischen Zugangs zu subjektiven Unsicherheitserfahrungen mit der politikwissenschaftlichen Analyse der Sicherheitsstrategie der Regierung hervor. Robert Gays Untersuchung der Ursachen und Folgen von Gewalt im Zusammenhang mit der Drogenkriminalität in Rio de Janeiro benennt Gewalt zwar als Definitionsmerkmal der lateinamerikanischen Demokratie. Jedoch ist seine Argumentation mehr der Demokratisierungsforschung als dem konzeptionellen Blick von Arias und Goldstein verhaftet. Demgegenüber verfolgt Todd Landman das Ziel, die komparatistische Forschung zum Verhältnis von Demokratie und Gewalt auf konzeptioneller Ebene voranzubringen. Er entwickelt eine Typologie von Gewaltformen und -akteuren sowie eine Klassifizierung von unterschiedlichen Regimetypen, die sich hinsichtlich der demokratischen Qualität ihrer Institutionen unterscheiden. Zuletzt führt Enrique Arias die Einzelbeiträge zusammen, identifiziert Forschungsdesiderata und diskutiert Lösungsansätze. Er regt eine Reformulierung von lateinamerikanischen Politiken an, die von der ehrgeizigen Vision getragen ist, neue Formen der Interaktion von Staat und Gesellschaft und die Kritik der gewaltbegünstigenden Rolle der internationalen Märkte sowie die soziale Inklusion marginalisierter Bevölkerungs-gruppen zu ermöglichen (264).

Die Leistung der Herausgeber besteht darin, die Schwachstellen konventioneller Ansätze der Sicherheits- und Demokratisierungsforschung pointiert herauszuarbeiten und Eckpunkte einer konzeptionellen Alternative anzudeuten. Die empirischen Beiträge und das Fazit stützen die methodologische Forderung nach einer disziplinenübergreifenden sozialwissenschaftl-ichen Forschung. Die ethnographisch gewonnenen Erkenntnisse über Gewalt- und Unsicherheitserfahrungen, verbundene Subjektivierungsprozesse sowie das Zusammenspiel unterschiedlicher Gewaltakteure führt die Grenzen von klassischen politikwissenschaftlichen Herangehensweisen vor Augen. Die Einbindung unterschiedlicher Disziplinen verdeutlicht zudem die Multidimensionalität der jeweiligen national und transnational bedingten Faktoren, die die gegenwärtigen (Un)Sicherheitssituationen bestimmen. Ein Aspekt, der sich in den Analysen der Gewaltkonfigurationen herauskristallisiert, ist das Zusammenwirken von Möglichkeitsstrukturen und Akteuren auf unterschiedlichen Ebenen des politischen Systems. Allerdings ist bei der Auswahl der Fallstudien zu bemängeln, dass zentralamerikanische Länder, in denen die Gewaltproblematik besonders virulent ist, nicht berücksichtigt wurden.

Dagegen ist die disziplinäre Offenheit des Ansatzes und die Einbeziehung einer großen Themenvielfalt eine Stärke des Bandes. Sie bietet zahlreiche Ansatzpunkte für eine innovative Auseinandersetzung mit der Gewaltproblematik in den lateinamerikanischen Ländern. Die Kehrseite besteht darin, dass die Konturen der konzeptionellen Perspektive vage bleiben. Während die Abgrenzung zur Transitionsforschung mehrfach betont wird, sind positive theoretische Bezugspunkte rar. Eine auffällige Schwachstelle ist, dass das Verständnis der zentralen Begrifflichkeiten „Gewalt“ und „Demokratie“ nicht explizit dargelegt wird. Eine Typologisierung von Gewaltformen und -akteuren, wie sie im Beitrag Landmans entwickelt wird, wäre für die Weiterentwicklung des Ansatzes von Vorteil.

Ein weiterer problematischer Aspekt ist die Darstellung von Gewalt als „[...] zentraler Bestandteil der lateinamerikanischen Demokratie, als ihr Gründungsfundament und als entscheidende Komponente, die ihr Fortbestehen ermöglicht” (13).[1] Zum einen blendet die Rekonstruktion der lateinamerikanischen politischen Systeme als violent democracies friedliche politische Gegenstrategien aus und kann auf diese Weise ein gewaltreproduzierendes Narrativ der Unvermeidbarkeit begünstigen. Zum anderen kann die spezifische Verbindung lateinamerikanischer Demokratie mit Gewalt kulturalistischen Argumentationen Tür und Tor öffnen – obgleich dies sicher nicht im Sinne der formulierten Kritik an hierarchisierenden Gegenüberstellungen, der ,westlichen und der restlichen Demokratien’ ist. Um solchen Vereinnahmungen vorzubeugen wäre es hilfreich, systematischer auszuführen, worin die Besonderheit des violent pluralism auf dem Subkontinent liegt und die Möglichkeit von Vergleichen mit (Un)Sicherheitskontexten in anderen Regionen zu diskutieren.

 

 



[1]                „Violence here emerges as a key element of Latin American democracy itself, as the basis on which it was founded and a critical component allowing its maintenance”.