Pablo
Kreimer, Hebe Vessuri, Léa Velho, Antonio Arellano (Eds.)
(2014)
Perspectivas Latinoamericanas en el
estudio social de la ciencia, la tecnología y la sociedad
México, D.F.: Siglo XXI Editores, 602 p.
Rezensiert von Teresa Orozco
Freie Universität Berlin
Wissenschaft und
Technologie als Signum der Moderne sind mehr denn je fester
Bestandteil öffentlicher Politik. Über ihre breite
Verteilung auf verschiedene Bereiche beanspruchen sie eine
uneingeschränkte Autorität, welche der vorliegende Band in
ihrer sozialen und epistemischen Einbettung untersucht. So
sind soziale Studien über Wissenschaft und Technologie hier
nicht allein an die Wissenschafts- oder Techniksoziologie
gebunden. Vielmehr umfasst der Sammelband eine ganze Reihe
disziplinärer Perspektiven, aus den Bereichen Politologie,
Anthropologie, Philosophie, Psychologie, Geschichte und
Internationale Beziehungen, sowie Medizin, Biologie, Chemie,
Ökonomie, Agronomie und Ingenieurwesen.
Dem Buchkonzept liegt entsprechend ein Verständnis des
„Sozialen“ zugrunde, welches von der pluralen Konstituierung und
gegenseitigen Durchdringung von Wissenschaft, Technologie und
Gesellschaft ausgeht. So können transdisziplinäre Studien über
Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft (WTG) in
Lateinamerika nur vor dem Hintergrund ihrer
historisch-gesellschaftlichen Situiertheit ausreichend
reflektiert werden.
Als äußerst produktiv für diese Zielsetzung erweist sich das
breite Erfahrungsspektrum, auf welches die Herausgeber_innen
aufgrund ihrer Verortung in unterschiedlichen Nationalkulturen,
Disziplinen und internationalen Institutionen zurückgreifen
können. Bereits die Einleitung trägt so zum innovativen
Charakter des Buches bei, indem eine umfassende und
systematische Zusammenführung von bisherigen Studien,
theoretischen Ansätzen, historischen Informationen über
Institutionen und Organisationsformen der Natur- und
Sozialwissenschaften, sowie die Rolle öffentlicher Politiken in der
Gesamtregion (inklusive der häufig vergessenen Karibik) seit den
1960er Jahren geboten wird.
Die Herausgeber_innen zeichnen für die vergangenen Jahrzehnte
nach, wie einerseits ungleiche Entwicklungen und
Fragmentierungsprozesse, zeitgleich jedoch auch eine rege
Zunahme der Wissensproduktion und Professionalisierung auf
diesem Gebiet stattfanden, welche nicht zuletzt über die so genannten brain
gain und brain
drain
Strategien Ausdruck fanden.
Der Band macht entsprechend auf die historische Einbettung der
WTG in einen Internationalisierungsprozesses aufmerksam, der in
den 1960er Jahren von der Organisation der Vereinten Nationen
für Bildung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO), der Organisation
Amerikanischer Staaten (OAS) und der Wirtschaftskommission für
Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) ausging. Dabei betonen
sie, dass die Wissensproduktion über WTG in Lateinamerika – im
Unterschied zu Europa und den USA – bis heute durch strategische
Aneignungsformen gekennzeichnet ist, da die Nachteile des
asymmetrischen Technologietransfers hier relativ früh deutlich
wurden. Zwar positionierten sich die einzelnen Länder sukzessive gegen diese
international herrschende Logik der Wissensproduktion, ihre
strategischen Wachstumsoptionen und Möglichkeiten der
Wissensproduktion – insbesondere bezüglich der Gestaltung von
Rekrutierungswegen und Ausbildungswesen – waren jedoch aufgrund
ihrer territorialen und historischen Verflechtungen bereits
limitiert. Insgesamt wird so eine Chronologie der
Forschungsentwicklung von den Pionieren bis zu vierten
nachfolgenden Forschergeneration geboten, ergänzt durch einen
Vergleich der WTG-Forschungsagenda in Lateinamerika, USA und
Europa seit den 1990er Jahren. Die Herausgeber_innen machen
dieses Vorgehen im Verlauf der Einleitung transparent und somit
die konzeptuelle Struktur des Buches nachvollziehbar. Die
Auswahl der 90 Beiträge des Sammelbandes bildet sowohl die
aktuelle Vielfalt wissenschaftlicher und epistemischer
Orientierungen, Disziplinen und akademischer Laufbahnen ab, als
auch ein breites Spektrum von Geschlechtern, Altersgruppen und
geografischer Verortungen.
Im ersten Teil des Buches stehen die Disziplinen als Objekte im
Fokus der WTG-Forschung (Vessuri; Spiess und Da Costa; Matharan;
Gómez Seguel und Sepúlveda; Ramos Zincke und Fachone). Im
zweiten Teil wird das Feld der WTG selbst reflektiert (Spivak
L´Hoste und Gárgano; De Filippo; Núñez Jover, Figaredo Curiel,
Alonso Alonso et al.; Marquina Sánchez; Becerra und Juárez). Der dritte Teil setzt
sich mit den Spannungen zwischen lokalen, regionalen und
internationalen Ebenen auseinander. Ein Fokus liegt hier auf dem
Umgang mit asymmetrischen Handlungsmustern bei der
Internationalisierung von Wissen (Didou Aupetit, Kreimer und
Zukerfeld; de Greif A.; Paiva Moscoso und Velut; Oregioni und
Taborga; D´Onofrio), wobei jedoch auch der Wissensfluss vom
globalen
Süden in den
Norden etwa im Bereich der Nanotechnologie untersucht wird
(Suárez). Der vierte Teil behandelt Wissenshierarchien in der
Emergenz neuer Akteur_innen und Fragen, sowie der allgemeinen
Wissensproduktion in der Region (Lopes et al.; Ferpozzi und
Levin; Albornoz; Arellano Hernández; Morales-Navarro; Novaes;
Rappo Miguez, Vásquez Toríz und Cortés Sánchez; González Paredes
und Vera Hernández). Der fünfte Teil reflektiert die Verbindungen
zwischen Wissenschaft, Technologie und öffentlicher Politik (Dagnino;
Mercado, Sánchez und Testa; Feld; Casas, Corona und Rivera;
Baptista und Davyt; Cancino, Orozco et al.; Zabala; Murguía
Lores). Im sechsten Teil werden technische Veränderungen und
Innovationen beobachtet (Invernizzi und Foladori; Bagattoli;
García Cruz, Olivé und Puchet; Garrido, Fressoli et al.; De
Campos und Pamplona Da Costa; Palacios Rangel und Ocampo
Ledesma). Der siebte Teil widmet sich den Interaktionen und
Konvergenzen von Wissenschaft, Technologie und höherem
Bildungswesen. Im Zentrum stehen Ausbildung, Rekrutierung und
das Wissensmanagement an Universitäten (Velho; Martínez
Larrachea und Chiancone; Franco Avellaneda und von Linsingen;
Schwarztman; Correa García).
Zu den von Akademiker_innen erfahrenen Transformationen lässt
sich nach der Lektüre des Bandes festhalten, dass die
Überzeugungen etwa von Warren O. Hagstrom (1965) oder Robert K.
Merton (1968)welche den
Sozialwissenschaften unter anderem bei der Produktion
medizinischen Wissens Inkompetenz attestieren (Spiess und Da
Costa 45-46) heute als überholt gelten können. Auch
nicht-Soziolog_innen, wie etwa Natur-, Wirtschafts- oder
Geisteswissenschaftler_innen, bilden durchaus WTG-Kompetenzen
aus und können in dieses Feld intervenieren. Insgesamt, so wird
gezeigt, hängt der Erfolg transdisziplinärer
Grenzüberschreitungen und individueller Karrierewege jedoch von
wissenschaftlichen Nationalkulturen und intersektional geprägten
Verortungen (ethnische und soziale
Positionierung, Gender, Alter, Territorium) ab. Das Buch
vermittelt den klaren Eindruck, dass heute fast jede/r
Forscher_in beauftragt ist, Fachkompetenzen multifunktional
einzusetzen. Diese oft gefeierte „Kompetenzerweiterung“
leistet der viel beklagten Ausbeutung nicht nur von
Akademiker_innen Vorschub, sondern trägt auch, wie der Artikel
von Kreimer und Zukerfeld darlegt, zur „kognitiven Ausbeutung“
(183) zahlreicher Kollektive und außerakademischer
Wissensproduzent_innen bei.
Das Buch ist eine Fundgrube sowohl zur Entwicklung, als auch zur
aktuellen Lage der WTG in Lateinamerika. Es liefert wertvolle
Einsichten in Mechanismen und Pfadabhängigkeiten, aber auch zu
alternativen Wegen der Kritik. Letztere werden innerhalb der WTG
zwar gerade vor dem Hintergrund ökonomischer und sozialer
Globalisierungsprozesse
möglich. Die entsprechenden europäischen und nordamerikanischen
Debatten blenden solche Kritikansätze jedoch häufig aus, indem
lediglich Innenansichten auf Wissenschaft und Technologie
reproduziert und gerade die gesellschaftlichen
Möglichkeitsbedingungen eher im Dunkeln belassen werden. Auch im
Sinne der Herausgeber_innen wäre sehr zu wünschen, das diese Beiträge auch
Entscheidungsträger_innen
und Politikgestalter_innen erreichen. Aus seinem innovativen,
differenzierten und wissenschaftskritischen Konzept begründet
sich nicht nur die Stärke des Buches, sondern es kann so auch
als erste Publikation über die Sichtweisen, Errungenschaften und
Herausforderungen von WTG in der Gesamtregion begrüßt werden.
Bibliografie
Hagstrom, Warren O. (1965), The scientific community, Nueva York, Basic Book.
Merton, Robert K. (1968), Social Theory and Social
Structure, Nueva
York, Free Press.