Sebastián Ureta (2015)

Assembling Policy. Transantiago, Human Devices, and the Dream of a World-Class Society

Cambridge, MA: MIT Press, 199 pp.


Rezensiert von Laura Kemmer

Universität Hamburg


Was hält die Stadt zusammen? Eine ganze Reihe neuer Ansätze der internationalen Stadtforschung beschäftigt sich mit der Suche nach solchen Kräften, die menschliche Stadtbewohnerinnen mit einer ganzen Reihe materieller und immaterieller Akteure, Ideen, Versprechen, Technologien und Affekten verbinden. Während sich diese äußerst heterogenen Elemente bei Ignacio Farías und Colin McFarlane in „urbanen Assemblagen“ versammeln, spüren Ash Amin, AbdouMaliq Simone und Philipp De Boeck den Verbindungen sozio-technischer Infrastrukturen nach. Eine überzeugende Zusammenführung beider Ansätze findet sich in Sebastián Uretas Studie zur Einführung des
öffentlichen Verkehrssystems „Transantiago“ in der chilenischen Hauptstadt. Der Autor nimmt eine der stärksten politischen Kontroversen seit der Rückkehr zur Demokratie in den 1990er Jahren zum Anlass, um nach der Rolle menschlicher Akteure in infrastrukturellen Großprojekten zu fragen.


Dass Interventionen in städtische Verkehrsinfrastrukturen verheerende Folgen für die Bewohner haben können, wird gerade für Lateinamerika im Vorfeld der Abstimmung einer „Neuen Urbanen Agenda“ im Herbst 2016 durch die Vereinten Nationen in Quito mit Vehemenz diskutiert. Besonders deutlich wird der ungleiche Zugang zur Stadt, wenn vor dem Hintergrund solch mega-Event bezogener Transformationen wie im post-WM und prä-olympischen Rio de Janeiro gezielt Busverbindungen zwischen armen und reichen Stadtgebieten gestrichen werden oder eine neue Autobahn ganze Nachbarschaften verdrängt. Einer prominenten Perspektive der Wissenschafts- und Technikforschung folgend geht auch Ureta davon aus, dass Menschen immer im Zentrum infrastruktureller Interventionen stehen. Über die Untersuchung sogenannter „menschlicher Geräte“
1 spürt Ureta entsprechend einem Kollektiv aus Daten, materiellen Elementen, menschlichen Körpern und Imaginarien nach, welches die untrennbare Verbindung von Technik und Wissenschaft mit sozialer und politischer Ordnung aufzeigt.


Wie genau sich so heterogene Elemente einer sozio-technischen Infrastruktur wie Passagiers-Statistiken, neue Busdesigns, schlangestehende Stadtbewohnerinnen und der „Traum einer Weltklassegesellschaft“ miteinander verbinden untersucht Ureta methodologisch überzeugend unter Zuhilfenahme des Assemblage Ansatzes der Stadtforschung. Zusammenfassend lässt sich die entsprechende Forschungshaltung in dem Versuch beschreiben, möglichst frei in Richtung aller menschlichen und nicht-menschlichen, materiellen und immateriellen Akteure zu assoziieren, die sich mit dem Gegenstand (hier: Transantiago) verbinden. Entgegen der zuletzt gegen diesen Ansatz erhobenen Vorwürfe zeigt der Autor, dass gerade das Ernstnehmen auch nicht-menschlicher Akteure keineswegs mit einer machneutralen Analyse einhergeht. Vielmehr schafft Ureta eine durchaus differenzierte Qualifizierung der Akteursverbindungen und macht so das prozesshafte Einbinden, aber eben auch „Auslöschen“2 bestimmter Elemente für eine kritische Analyse fruchtbar. Policies, speziell Mobilitätspolitiken, als in Assemblagen eingebettet zu analysieren ist hier also nicht nur methodologisch gemeint. Der Autor zeigt, dass der politische Entwurf eines zeit- und kostensparenden Verkehrssystems mit dem Verschwinden von Sitzplätzen oder der Subversion von Kontrollgeräten verbunden ist. Die kritische Perspektive auf Machtkonflikte rund um den „Transantiago“ zieht sich konsequent durch die sechs Kapitel des übersichtlich strukturierten Buches.


Innerhalb des Untersuchungszeitraumes werden zwischen den ersten Entwürfen eines neuen Mobilitätsplanes für Santiago de Chile im Jahr 2000 bis zum Versuch der Normalisierung des „Transantiago“ 2009 vier als „Konfigurationen“ benannte Abschnitte analysiert. Im ersten Kapitel zeigt Ureta zunächst, wie
über eine heraufbeschworene Krise (1) der bisherigen Transportinfrastruktur von Projektbeginn an ein bestimmtes Bild der künftigen Nutzer als Konsumenten und Bürgerinnen geschaffen wurde. In Kapitel zwei und drei analysiert Ureta, wie über staatliche Planung als Antwort auf die Krise eine neue Ordnung begründet wird. Eingeleitet wird diese über den Prozess der Infrastrukturierung, hier nachgezeichnet als Versuch, die Idee der „aktiven Staatsbürgerinnen3“ in konkrete Materialitäten zu übersetzen, sowie ihre spätere Ablösung durch so genannte „Zeit- und Geldoptimierer4“. Die detaillierte Analyse konzentriert sich an dieser Stelle auf die „menschlichen Geräte“, welche mit der Modellierung neuer Busrouten und Finanzierungspläne geschaffen werden. Über die damit einhergehende Quantifizierung eines bestimmten Nutzerverhaltens wird der „bequeme Gewohnheitsnutzer“5 aus der infrastrukturellen Assemblage ausgeschlossen.


Die bis zu diesem Punkt der Analyse beinahe idealtypisch aufgebaute
Policy Assemblage um den Transantiago wird ab Kapitel vier durchbrochen. In der darauf folgenden zweiten Hälfte des Buches verfolgt Ureta nun konsequent eine Verständnis infrastruktureller Großprojekte als Gegenstand permanenter Störungen und Unter-brechungen (disruptions, Konfiguration 3). Zunächst scheint der Autor lediglich an die wenig umstrittene sozialwissenschaftliche Erkenntnis anzuknüpfen, dass bestimmte Elemente einer Infrastruktur erst nach ihrem (temporären) Zusammenbruch „sichtbar“ oder „untersuchbar“ werden. Im Verlauf der Kapitel vier und fünf wird jedoch deutlich, dass eine auf die menschlichen Nutzer der Infrastruktur ausgerichtete Analyse in solchen Störungen mehr findet, als lediglich das Auftauchen bisher abwesend geglaubter Elemente. Spezielle Aufmerksamkeit gilt hier dem Moment, in dem die „menschlichen Geräte“ sich nicht länger nur in Modellen oder Statistiken finden, sondern durch tatsächliche Nutzerinnen des Transantiago verkörpert werden. Am Beispiel der Reaktionen (Kap. 5) auf neu eingeführte Ticket-Kontrollautomaten zeigt Ureta, wie die Passagiere entsprechende Taktiken des Nichtbezahlens finden. Hier geht es nun nicht um das simple Einfügen von Elementen in die Policy Assemblage, sondern um ihre Gesamtveränderung. Ureta zeigt, wie erst aus dem Bruch von Gewohnheiten neue Möglichkeitsräume entstehen, welche wiederum mit der Veränderung sozio-technischer Infrastrukturen und entsprechender Verkehrs-Policies einhergehen.


Der innovative Beitrag des Buches – gleichzeitig eine Empfehlung für all jene, die sich kritisch mit dem Spannungsverhältnis Politik-Gesellschaft-Technik in (Transport-)Infrastrukturen auseinandersetzen wollen – begründet sich aus der analytischen Anerkennung des ständigen Auf und Ab vonInfrastruktur. Auch im letzten Kapitel des Buches, in dem es um die Konfiguration der Normalisierung (4) geht, entscheidet sich Ureta konsequent gegen eine statische Trennung von an- oder abwesenden Elementen einer Infrastruktur. Ebenso wie die Reaktion der Nutzer auf Störungen nicht einfach das eine Ende eines linearen Prozesses darstellt, so kann auch der Versuch der Disziplinierung dieses Verhaltens keine endgültige Ordnung etablieren. Am Beispiel des Transantiago zeigt sich, dass auch das Einführen so genannter „Bezahlzonen“6 nicht einfach zur Ablösung des „bequemen“ Nutzers durch „Zeit- und Geldoptimierer“ führte, welche ihren Komfort zugunsten schnellerer und günstigerer Verkehrsmittel vollständig aufgaben. Anstatt sich nach dem Passieren der Kontrollautomaten in den zonas pagas zu verteilen, bildeten die Nutzer des Systems zu einigen Tageszeiten Warteschlangen, um eine gerechtere Vergabe der wenigen Sitzplätze in den Bussen zu organisieren. Zwar schildert Ureta die nachträgliche „offizielle“ Einführung von zwei Schlangen – eine für die stehenden „Optimierer“ und eine für die „bequem“ sitzenden Passagiere. Diese Beobachtung führt ihn jedoch keineswegs zu dem Ergebnis, dass eine verbesserte Einbindung der Nutzer den Transantiago „demokratisieren“ (163) könne. Vielmehr betont er, dass die Anerkennung eines zweiten Nutzertypus weiterhin eine Vielzahl anderer möglicher Praktiken ausschließt. Ein Mehr an Partizipation im Planungsprozess, so wird deutlich, bedeutet nicht das Überkommen der über die anderen Elemente einer Policy Assemblage generierten Ausschlüsse und Machtasymmetrien. Den Assemblage Ansatz konsequent zu verfolgen, so Ureta, impliziert auch für die Praxis jenseits wissenschaftlicher Anwendung die Offenheit für unerwartete, neu auftauchende oder sich verändernde Elemente einer Infrastruktur.


1 „human devices“ (20)

2 „erasure“ (13)

3 „active citizens“ (49)

4 „fare and time optimizer“ (69)

5 „user as carrier of habits“ (85); „comfort-seekers“ (148)

6 „zonas pagas“ (147)