Ayelet
Shachar:
The
Birthright Lottery: Citizenship and Global Inequality
Boston: Harvard
University Press, 2009, 290 Seiten
Rezension:
Manuela Boatcă
♦ Der soziologische Common
Sense erklärt die soziale Ungleichheit in modernen
Gesellschaften fast ausschließlich
mit erworbenen Merkmalen wie Bildungsniveau und Stellung im
Beruf. Gemäß diesem
Verständnis steht vertikale soziale Mobilität – d.h., sozialer
Aufstieg – heute
jedem Individuum offen, wenn es sich durch Aus- und
Weiterbildung und durch Leistung
auf dem Arbeitsmarkt um die Verbesserung seiner Stellung im
nationalen Gefüge
sozialer Ungleichheit bemüht. Zugeschriebene Merkmale, die
Individuen bei der
Geburt eine unveränderliche Kategorie wie Geschlecht,
Ethnizität oder Rasse
zuweisen, sollen dagegen entweder nur für die
Ungleichheitsstrukturen
traditioneller, vormoderner und zugleich statischer
Gesellschaften entscheidend
gewesen sein, in denen sozialer Aufstieg die Ausnahme ist,
oder höchstens als
ständische Überreste einer „geteilten Moderne“ (Ulrich Beck)
heute noch
vorhanden sein. Diesem Common
Sense,
der über die Sozialwissenschaften hinaus zum Grundtenor
gängiger politischer
Diskurse über die potentielle Verbesserung der Lebenschancen
aller durch
Bildung oder Leistung geworden ist, setzt Ayelet Shachar eine
provokante These
entgegen: dass eins der zentralen Ungleichheitsmerkmale auf
globaler Ebene –
die Mitgliedschaft in der politischen Gemeinschaft eines
Staates – analog zum
mittelalterlichen Lehnswesen funktioniert und damit fast wie
Erbeigentum
(inherited property) transferiert wird. Ähnlich wie das
Erblehen – die
Übertragung von Rechten und Pflichten von einem Lehensnehmer
auf seine Erben in
der common law-Tradition
– wird
Staatsangehörigkeit heute bei der Geburt zugewiesen, und
stellt damit kein
erworbenes, sondern ein eminent zugeschriebenes Merkmal dar.
Als solches hat es
erhebliche Konsequenzen für die Lebenschancen derjenigen, die
davon betroffen
sind – sei es als Inkludierte oder als Exkludierte. Dabei
seien sowohl jus
sanguinis (Abstammungsprinzip), als
auch jus soli
(Territorialprinzip)
für die Chancenverteilung innerhalb der globalen
Ungleichheitsstruktur ähnlich
folgenschwer. Entgegen der geläufigen Meinung, dass die
Unterschiede zwischen
den beiden Typen der Gewährung von Mitgliedschaft in einem
Staat sie auch
unterschiedlich gerecht, liberal oder modern machen, weist
Shachar auf den
sonst wenig diskutierten gemeinsamen Nenner der zwei Modelle
hin:
Staatsangehörigkeit wird in beiden als Geburtsrecht behandelt
– im Falle von jus
sanguinis als Recht durch
Blutsverwandtschaft, im Falle von jus
soli auf Basis des Geburtsortes. Als
„Geburtsrechtlotterie“, so der Titel
des Buches, spielt die heutige Logik der Gewährung von Rechten
in einer
politischen Gemeinschaft eine bedeutende Rolle bei der
Reproduktion globaler Ungleichheiten.
Dies trifft sowohl auf Ungleichheiten des Einkommens zwischen
reichen und armen
Ländern, aber auch – und in dramatischerer Weise – auf den
Zugang zu vitalen
Ressourcen wie sauberem Wasser, medizinischer Versorgung und
Nahrungsmitteln
zu, bei dem der Zufall der Geburt in einem reichen Land
erheblich
mitentscheidet (Therborn 1995).
Mit dem Anspruch, an der Schnittstelle
zwischen
Rechtswissenschaft, Ökonomie und politischer Philosophie
anzusetzen, liefert Shachar zunächst einen Überblick über die
gegenwärtigen Debatten um
Staatsbürgerschaftsrecht und zunehmende Grenzkontrollen, die
sie anschließend
mit der Geschichte der rechtsphilosophischen Diskussion zur
Vererbung von
(Grund)Eigentum rückkoppelt. Ihr zentrales Argument lautet,
dass es die
Analogie zwischen ererbtem Besitz und Staatsangehörigkeit qua
Geburtsrecht
erlaubt, Staatsbürgerschaft als ein sorgfältig reguliertes
System zu
betrachten, das den Zugang zu knappen Ressourcen auf die
„natürlichen“ Erben
der politischen Gemeinschaft beschränkt (43).
Die anschließende Beweisführung bewegt sich
auf zwei
parallelen und sich ergänzenden Ebenen: zum Einen, die Ebene
der Analyse der
verschiedenen Dimensionen in der Entstehung und Verstärkung
von Ungleichheiten
durch Staatsbürgerschaftsrecht, die Shachar mit Hilfe einer
Fülle von
eindrucksvollen Beispielen und Zahlenmaterial veranschaulicht.
Als
paradigmatisch für die jus
soli-Tradition
werden dabei die USA und Kanada behandelt, exemplarisch für jus sanguinis
hingegen Deutschland und
Israel. Da die Autorin beide Modelle aus unterschiedlichen
Gründen für
problematisch erachtet, ergreift sie nie Partei für eines
davon, sondern
schildert anhand von ausgewählten Gerichtsurteilen die
systematische Produktion
von Überinklusion (overinclusion) – das im Ausland geborene
Kind von längst
ausgereisten Eltern, das dennoch deren Staatsangehörigkeit
gemäß
Abstammungsprinzip erhält – und Unterinklusion
(underinclusion) – im Ausland
geborene Personen, die sich lebenslang für eine politische
Gemeinschaft
einsetzen, deren Staatsbürgerschaft sie jedoch wegen des dort
herrschenden
Territorialprinzips nie erhalten. Shachar entlarvt zwar dabei
beide Modelle,
grundsätzlicher jedoch die Logik der Staatsbürgerschaft qua
Geburtsrecht, als
politische Kreation und als ein Politikum zugleich: „...both
systems create and
maintain legal boundaries that are backed up by force. These
boundaries are neither natural nor apolitical. Instead, their
erection and
coercive enforcement protect the interests of those designated
as legitimate
title bearers, while imposing severe legal sanctions against
those who are
perceived (by the very same laws) as unauthorized entrants who
breach them“
(34). Damit
steht die These Shachars im Einklang mit neueren
Untersuchungen, die anhand
empirischer Daten zu Einkommensungleichheiten im weltweiten
Vergleich belegen,
dass Staatsangehörigkeit die Hauptdeterminante der Stellung
eines Individuums
in der globalen Ungleichheitsstruktur darstellt
(Korzeniewicz/Moran 2009). Ähnlich
wie diese plädiert sie für einen Wechsel der Analyseeinheit
von der nationalen
politischen Gemeinschaft zur globalen Ebene, um darauf
aufmerksam machen zu
können, dass die nationale „gate-keeping function“ von
Staatsbürgerschaft aus
globaler Perspektive eine „wealth-preserving function“ für
eine ausgewählte
Minderheit reicher Staaten darstellt (33f.).
Auf einer zweiten Ebene erarbeitet die
Autorin Vorschläge
für die Korrektur der Ungleichheiten, die durch den
intergenerationellen
Transfer von Staatsbürgerschaft entstehen, und unterscheidet
sie nach ihrer
Reichweite: Zur Umverteilung globaler Disparitäten skizziert
sie eine z.T. an
der gegenwärtig diskutierten Transaktionssteuer auf
Finanzspekulationen
angelehnte Steuer auf das Privileg des Geburtsrechts
(birthright privilege
levy), die je nach dem „Wert“ der jeweiligen
Staatsbürgerschaft sich bemessen
würde bzw. zu entrichten wäre. Für die Ebene nationaler
Politik entwirft sie
ein Modell, das die Nachteile von jus
soli und jus
sanguinis umgeht,
aber deren Vorteile beibehält. Als „jus nexi“ (164 ff.) oder
„Verbindungsprinzip“ soll es demnach die progressive Gewährung
von sozialen und
politischen Rechten im direkt proportionalen Verhältnis zur
Beteiligung der
Individuen am Leben der politischen Gemeinschaft erlauben.
Die beiden Vorschläge stellen wohl die
schwächsten Glieder
der ansonsten souveränen und mitreißenden Argumentationskette
Shachars dar.
Obwohl sich die beiden Lösungen aus der vorangegangenen
Analyse logisch zu
ergeben scheinen und durchaus überzeugend präsentiert werden,
decken sie nur
einen Teil des Problems ab, das Shachar selbst zum Politikum
erklärt: Sie
machen die extrem ungleiche Verteilung von Reichtum und
Rechten an der falschen
Form von Staatsbürgerschaftsrecht fest – und schlagen eine
„richtige“ vor –
anstatt die Akkumulationslogik zu kritisieren, für die auch
die geltenden
Prinzipien der Gewährung von Staatsangehörigkeit nur ein
Instrument sind.
Es ist deshalb nicht die Frage nach der
praktischen
Umsetzbarkeit der präsentierten Vorschläge, die sie
unrealistisch macht,
sondern die theoretische Unvereinbarkeit mit der
Akkumulationslogik eines
kapitalistischen Systems, das von der hier kritisierten
„wealth-preserving
function“ seiner zentralen Mechanismen lebt. Das Bild von
Staatsbürgerschaft als
eine Form ererbten Besitzes und seine konsequente
Weiterführung in der Diagnose
zugeschriebener Ungleichheiten als konstitutiv für die moderne
Welt machen aus
„The Birthright Lottery“ nichtsdestotrotz ein
richtungsweisendes Werk für die
Analyse globaler Ungleichheiten – wenngleich nicht für deren
Lösung. ♦
Literatur:
Korzeniewicz, Roberto Patricio/Moran,
Timothy Patrick (2009): Unveiling
Inequality. A World-Historical Perspective, New York: Russell
Sage Foundation
Therborn,
Göran
(1995): European Modernity and Beyond. The Trajectory of
European Societies,
1945-2000, London: Sage