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Rezensiert von Markus Hochmüller
Freie Universität Berlin
Mit „I Ask for Justice“ legt David Carey Jr. eine Studie vor,
die die Debatte um die Rolle der Justiz in postkolonialen
Gesellschaften durch eine innovative Perspektive ergänzt. Im
Kontext der liberalen Diktaturen Guatemalas (1898-1920 und
1931-1944) beleuchtet der Professor für Geschichte und Women and
Gender Studies die produktive Funktion von Recht und seine
Nutzung durch marginalisierte Gruppen. Damit leistet er einen
kritischen Beitrag zur Wissensproduktion zu Justiz und
Kriminalität in Lateinamerika, knüpft an einschlägige
historisch-kriminologische Debatten an (siehe u.a. Piccato
2001), und geht über eine rein auf die repressive Seite des
Rechts rekurrierende Perspektive hinaus. Anhand von
Gerichtsverfahren, in die v.a. arme, indigene Frauen aus
ländlichen Räumen involviert waren, zeigt er, wie diese ihre
Position in einem autoritären Staat aushandelten, indem sie „die
patriarchale Intention des Rechts“1 zur Verfolgung ihrer Ziele und
Interessen „unterwanderten“2 (7).
Einleitend (1-26) beschreibt Carey die Verbindung männlicher
Dominanz und der liberalen Regime sowie die Position der
indigenen Frauen. Indem er verdeutlicht, dass jene eine
„relative Freiheit“3
(9) besaßen, „ihre Rechte einforderten und sich die Diskurse der
Elite aneigneten“4
(9), bringt Carey die Frage nach der lokalen Agency subalterner
Akteure und nach Aneignungs- und Abwehrprozessen zurück in die
Debatte um Staat und Herrschaft. Dazu nimmt Carey die
„informelle Arena der Macht“5
(14-5) und die Kriminalisierung „alltäglichen Verhaltens“6
(15) ebenso in den Blick wie den Kampf der Marginalisierten
durch die Mittel des Rechts.
Aus historisch - anthropologischer Perspektive illustriert
Carey, wie „Macht, Gender, Ethnie, Klasse und Moral“ durch
Aneignung von marginalisierten Gesellschaftsteilen zur
Vertretung ihrer Interessen und ihrer Verteidigung „konstruiert
und angefochten wurden“7
(16). Basierend auf der Analyse von 661 Falldokumenten und
Petitionen sowie über 100 oral-history-Interviews in zwei
Kaqchikel-Gemeinden, gewährt er Einblick in die Aushandlung von
Abweichung/Normalität, die den Prozess der Staatsbildung und die
Frage nach der Staatsbürgerschaft in seiner alltäglichen
Umkämpftheit veranschaulicht.
In sechs Kapiteln nimmt Carey diesen Prozess aus verschiedenen
Perspektiven in den Blick, indem er das Gericht als
Aushandlungsraum begreift und als „analytisches Werkzeug“8
nutzt, um „die Machtbalance zwischen Menschen und dem Staat“9
(27) zu erfassen.
In Kapitel 1 zeigt Carey, wie Indigene trotz Repression ihre
Rechte in Gerichtsverfahren einfordern. Dies alles geschieht vor
dem Hintergrund eines Willens zur Modernisierung: Die liberalen
Regime suchten, in Guatemala Ordnung, Fortschritt und ein
positivistisches Wissenschafts- und Rechtsverständnis zu
implementieren (32-45), das dem Staat den Zugriff auf Körper und
Leben seiner Bürger_innen ermöglichen sollte. Dieser liberalen
Diskurse bedienten sich die Marginalisierten mitunter aber auch
selbst, indem sie sich z.B. diskriminierende Vorurteile
aneigneten und diese zur Verfolgung ihrer Interessen einsetzten:
So rechtfertigten beispielsweise indigene Schwarzbrennerinnen
(Kapitel 2) in ihren „narrativen Strategien“10
(61) gegenüber der Justiz ihr Verhalten durch ihr Unwissen als
Frau (78), oder dass sie als Indigene bei der Alkoholherstellung
lediglich dem Vorbild der Ladinos gefolgt seien – welche sich
jedoch die notwendige Lizenz eher leisten konnten –, und sie
sich daher keiner Schuld bewusst seien (79). So wurden also
Vorurteile gezielt zur Verteidigung genutzt (125). Auch wurde
von Angeklagten angeprangert, dass der Staat bei der Versorgung
seiner Bürger_innen versage, und man deshalb auf alternative
Einkommenswege angewiesen sei (81). Eine weitere
Verteidigungsstrategie, die sich des liberalen Familienbildes
bediente, war der Rekurs auf die Rolle der Frau als Mutter
(82-5), die für ihre Familie sorgen müsse, weshalb sie nicht
verurteilt werden dürfe und besonders schutzbedürftig sei
(172-5).
Auch die von Frauen dominierten Märkte waren Schauplätze der
Auseinandersetzung zwischen Bürgerinnen und dem Staat (Kapitel
3). Indigene Frauen wurden häufig kriminalisiert oder als
Problem für die öffentliche Gesundheit und Ordnung dargestellt,
um dem Staat zu erlauben, „die Kontrolle über diese öffentlichen
Räume herzustellen“11
(102) und die Indigenen in die Nation zu integrieren. Doch
dieser Prozess war hart umkämpft, und auch die Justiz war durch
ihre Einbindung in klientelistische Strukturen und
gesellschaftliche Kämpfe in ihrer Autonomie beschränkt (115). So
äußerten v.a. lokale Richter oft Verständnis für die Situation
der Angeklagten. In Kapitel 4 wird deutlich, wie u.a. Frauen die
Rechtsprechung zu ihren Gunsten verändern oder nutzen können.
Anhand von Verfahren wegen Kindsmord, Vergewaltigung oder
Abtreibung verdeutlicht Carey, wie diese die starren
Genderdichotomien einsetzten, um Männer zur Verantwortung zu
ziehen (119) bzw. die Autorität des Staates zu hinterfragen und
ihn an seine Schutzpflicht gegenüber der „schwachen“ weiblichen
Bevölkerung zu erinnern (124). Wie stark die vorurteilsbeladene
Geschlechtertrennung ausgeprägt war, wird besonders bei den
Medien deutlich, die zur Stigmatisierung – insbesondere von
Frauen, die von der Norm abzuweichen schienen – beitrugen
(136-152). Diese Stigmatisierung erlaubte es dem autoritären
Staat, die gesellschaftlichen Positionen der Geschlechter zu
verstetigen und darauf aufbauend seine Macht abzusichern, wie
Carey in Kapitel 5 anhand der Gewalt zwischen Geschlechtern
illustriert, die als soziales Ventil insbesondere für subalterne
Männer, und somit als „Governance-Werkzeug“12
(154) fungierte und die patriarchalen Strukturen reproduzierte.
So macht Carey die politische Dimension häuslicher Gewalt
deutlich, die seitens des Staates als lediglich „interpersonell“13
gerahmt und somit „entpolitisiert“ wurde (154).
Eine der bemerkenswertesten Erkenntnisse dieses Buches ist
sicherlich, dass die Bürger_innen trotz ihrer Marginalisierung
weiterhin bei den staatlichen Institutionen einforderten, dass
diese sie vor Gewalt schützt (177) und bei der Aufrechterhaltung
ihres Ansehens und ihrer Ehre unterstützt (Kapitel 6). Gerade
durch die Vorstellung von Ehre konnte der Staat auch in das
private Leben hineinregieren und die Ordnung auf seinem
Territorium aufrechterhalten, indem er die Ehre auch der
marginalisierten Teile der Bevölkerung als „soziales Kapital“14
(193) respektierte und diese somit in die Staatsbildung
integrierte.
Die Justiz war demnach immer ein Schauplatz sozialer Kämpfe und
ein Raum für Aushandlungen, wie Carey abschließend betont. Und
dies trotz des Interesses der liberalen Regime, eher „rule of
order“ denn „rule of law“ herzustellen (225).
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Carey ein Beitrag
gelungen ist, der die Rolle der marginalisierten und häufig
kriminalisierten Teile der Gesellschaft bei der Staatsbildung
ernst nimmt und den umkämpften Charakter von Recht und
Staatlichkeit aufzeigt. Durch die Analyse gesellschaftlicher
Aushandlungsprozesse aus einer intersektionalen Perspektive wird
der Prozess der Staatsbildung in all seiner Komplexität
greifbar. Trotz einiger repetitiver Passagen ist Careys Buch ein
innovativer Beitrag gelungen, der sich mit simplen Narrativen zu
Recht/Unrecht, Staat und Geschlecht nicht zufrieden gibt und
diese kritisch hinterfragt. In diesem Sinne sei sein Buch unter
anderem den Leser_innen empfohlen, die sich mit Staatlichkeit
und der Rolle von Recht kritisch auseinandersetzen wollen.
Literatur:
Pablo Piccato (2011): City of Suspects. Crime in Mexico City, 1900-1931, Durham: Duke University Press.
1 „the
patriarchal intent of laws“
2 „subverted“
3 „relative freedom“
4 „demanded their rights and appropriated elite discourse“
5 „the informal arena of power“
6 „everyday behavior“
7 „how power, gender, ethnicity, class, and morality were constructed and contested“
8 „analytical tool“
9 „balance of power between people and the state“
10 „narrative strategies“
11 „to establish control over these public spaces“
12 „tool of governance“
13 „interpersonal“ ... „depoliticized“
14 „social capital“