David Carey Jr., (2013)


I Ask for Justice. Maya Women, Dictators, and Crime in Guatemala, 1898-1944


Austin: Texas University Press. 335 S. + xxi.


Rezensiert von Markus Hochmüller


Freie Universität Berlin


Mit „I Ask for Justice“ legt David Carey Jr. eine Studie vor, die die Debatte um die Rolle der Justiz in postkolonialen Gesellschaften durch eine innovative Perspektive ergänzt. Im Kontext der liberalen Diktaturen Guatemalas (1898-1920 und 1931-1944) beleuchtet der Professor für Geschichte und Women and Gender Studies die produktive Funktion von Recht und seine Nutzung durch marginalisierte Gruppen. Damit leistet er einen kritischen Beitrag zur Wissensproduktion zu Justiz und Kriminalität in Lateinamerika, knüpft an einschlägige historisch-kriminologische Debatten an (siehe u.a. Piccato 2001), und geht über eine rein auf die repressive Seite des Rechts rekurrierende Perspektive hinaus. Anhand von Gerichtsverfahren, in die v.a. arme, indigene Frauen aus ländlichen Räumen involviert waren, zeigt er, wie diese ihre Position in einem autoritären Staat aushandelten, indem sie „die patriarchale Intention des Rechts“1 zur Verfolgung ihrer Ziele und Interessen „unterwanderten“2 (7).


Einleitend (1-26) beschreibt Carey die Verbindung männlicher Dominanz und der liberalen Regime sowie die Position der indigenen Frauen. Indem er verdeutlicht, dass jene eine „relative Freiheit“3 (9) besaßen, „ihre Rechte einforderten und sich die Diskurse der Elite aneigneten“4 (9), bringt Carey die Frage nach der lokalen Agency subalterner Akteure und nach Aneignungs- und Abwehrprozessen zurück in die Debatte um Staat und Herrschaft. Dazu nimmt Carey die „informelle Arena der Macht“5 (14-5) und die Kriminalisierung „alltäglichen Verhaltens“6 (15) ebenso in den Blick wie den Kampf der Marginalisierten durch die Mittel des Rechts.


Aus historisch - anthropologischer Perspektive illustriert Carey, wie „Macht, Gender, Ethnie, Klasse und Moral“ durch Aneignung von marginalisierten Gesellschaftsteilen zur Vertretung ihrer Interessen und ihrer Verteidigung „konstruiert und angefochten wurden“7 (16). Basierend auf der Analyse von 661 Falldokumenten und Petitionen sowie über 100 oral-history-Interviews in zwei Kaqchikel-Gemeinden, gewährt er Einblick in die Aushandlung von Abweichung/Normalität, die den Prozess der Staatsbildung und die Frage nach der Staatsbürgerschaft in seiner alltäglichen Umkämpftheit veranschaulicht.


In sechs Kapiteln nimmt Carey diesen Prozess aus verschiedenen Perspektiven in den Blick, indem er das Gericht als Aushandlungsraum begreift und als „analytisches Werkzeug“8 nutzt, um „die Machtbalance zwischen Menschen und dem Staat“9 (27) zu erfassen.


In Kapitel 1 zeigt Carey, wie Indigene trotz Repression ihre Rechte in Gerichtsverfahren einfordern. Dies alles geschieht vor dem Hintergrund eines Willens zur Modernisierung: Die liberalen Regime suchten, in Guatemala Ordnung, Fortschritt und ein positivistisches Wissenschafts- und Rechtsverständnis zu implementieren (32-45), das dem Staat den Zugriff auf Körper und Leben seiner Bürger_innen ermöglichen sollte. Dieser liberalen Diskurse bedienten sich die Marginalisierten mitunter aber auch selbst, indem sie sich z.B. diskriminierende Vorurteile aneigneten und diese zur Verfolgung ihrer Interessen einsetzten: So rechtfertigten beispielsweise indigene Schwarzbrennerinnen (Kapitel 2) in ihren „narrativen Strategien“10 (61) gegenüber der Justiz ihr Verhalten durch ihr Unwissen als Frau (78), oder dass sie als Indigene bei der Alkoholherstellung lediglich dem Vorbild der Ladinos gefolgt seien – welche sich jedoch die notwendige Lizenz eher leisten konnten –, und sie sich daher keiner Schuld bewusst seien (79). So wurden also Vorurteile gezielt zur Verteidigung genutzt (125). Auch wurde von Angeklagten angeprangert, dass der Staat bei der Versorgung seiner Bürger_innen versage, und man deshalb auf alternative Einkommenswege angewiesen sei (81). Eine weitere Verteidigungsstrategie, die sich des liberalen Familienbildes bediente, war der Rekurs auf die Rolle der Frau als Mutter (82-5), die für ihre Familie sorgen müsse, weshalb sie nicht verurteilt werden dürfe und besonders schutzbedürftig sei (172-5).


Auch die von Frauen dominierten Märkte waren Schauplätze der Auseinandersetzung zwischen Bürgerinnen und dem Staat (Kapitel 3). Indigene Frauen wurden häufig kriminalisiert oder als Problem für die öffentliche Gesundheit und Ordnung dargestellt, um dem Staat zu erlauben, „die Kontrolle über diese öffentlichen Räume herzustellen“11 (102) und die Indigenen in die Nation zu integrieren. Doch dieser Prozess war hart umkämpft, und auch die Justiz war durch ihre Einbindung in klientelistische Strukturen und gesellschaftliche Kämpfe in ihrer Autonomie beschränkt (115). So äußerten v.a. lokale Richter oft Verständnis für die Situation der Angeklagten. In Kapitel 4 wird deutlich, wie u.a. Frauen die Rechtsprechung zu ihren Gunsten verändern oder nutzen können. Anhand von Verfahren wegen Kindsmord, Vergewaltigung oder Abtreibung verdeutlicht Carey, wie diese die starren Genderdichotomien einsetzten, um Männer zur Verantwortung zu ziehen (119) bzw. die Autorität des Staates zu hinterfragen und ihn an seine Schutzpflicht gegenüber der „schwachen“ weiblichen Bevölkerung zu erinnern (124). Wie stark die vorurteilsbeladene Geschlechtertrennung ausgeprägt war, wird besonders bei den Medien deutlich, die zur Stigmatisierung – insbesondere von Frauen, die von der Norm abzuweichen schienen – beitrugen (136-152). Diese Stigmatisierung erlaubte es dem autoritären Staat, die gesellschaftlichen Positionen der Geschlechter zu verstetigen und darauf aufbauend seine Macht abzusichern, wie Carey in Kapitel 5 anhand der Gewalt zwischen Geschlechtern illustriert, die als soziales Ventil insbesondere für subalterne Männer, und somit als „Governance-Werkzeug“12 (154) fungierte und die patriarchalen Strukturen reproduzierte. So macht Carey die politische Dimension häuslicher Gewalt deutlich, die seitens des Staates als lediglich „interpersonell“13 gerahmt und somit „entpolitisiert“ wurde (154).


Eine der bemerkenswertesten Erkenntnisse dieses Buches ist sicherlich, dass die Bürger_innen trotz ihrer Marginalisierung weiterhin bei den staatlichen Institutionen einforderten, dass diese sie vor Gewalt schützt (177) und bei der Aufrechterhaltung ihres Ansehens und ihrer Ehre unterstützt (Kapitel 6). Gerade durch die Vorstellung von Ehre konnte der Staat auch in das private Leben hineinregieren und die Ordnung auf seinem Territorium aufrechterhalten, indem er die Ehre auch der marginalisierten Teile der Bevölkerung als „soziales Kapital“14 (193) respektierte und diese somit in die Staatsbildung integrierte.


Die Justiz war demnach immer ein Schauplatz sozialer Kämpfe und ein Raum für Aushandlungen, wie Carey abschließend betont. Und dies trotz des Interesses der liberalen Regime, eher „rule of order“ denn „rule of law“ herzustellen (225).


Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Carey ein Beitrag gelungen ist, der die Rolle der marginalisierten und häufig kriminalisierten Teile der Gesellschaft bei der Staatsbildung ernst nimmt und den umkämpften Charakter von Recht und Staatlichkeit aufzeigt. Durch die Analyse gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse aus einer intersektionalen Perspektive wird der Prozess der Staatsbildung in all seiner Komplexität greifbar. Trotz einiger repetitiver Passagen ist Careys Buch ein innovativer Beitrag gelungen, der sich mit simplen Narrativen zu Recht/Unrecht, Staat und Geschlecht nicht zufrieden gibt und diese kritisch hinterfragt. In diesem Sinne sei sein Buch unter anderem den Leser_innen empfohlen, die sich mit Staatlichkeit und der Rolle von Recht kritisch auseinandersetzen wollen.


Literatur:

Pablo Piccato (2011): City of Suspects. Crime in Mexico City, 1900-1931, Durham: Duke University Press.


1 „the patriarchal intent of laws“

2 „subverted“

3 „relative freedom“

4 „demanded their rights and appropriated elite discourse“

5 „the informal arena of power“

6 „everyday behavior“

7 „how power, gender, ethnicity, class, and morality were constructed and contested“

8 „analytical tool“

9 „balance of power between people and the state“

10 „narrative strategies“

11 „to establish control over these public spaces“

12 „tool of governance“

13 „interpersonal“ ... „depoliticized“

14 „social capital“