Benedetta Faedi Duramy (2014)
New Brunswick/New Jersey/London: Rutgers University Press. 172 S. |
Rezensiert von Jessica Laura Hübschmann
Freie Universität Berlin
Lange Zeit wurden Frauen, die im Rahmen eines Krieges oder
Konfliktes Opfer sexueller Gewalt wurden, lediglich als passive
Objekte männlicher Aggressionen verstanden. Besonders der
feministischen Friedens- und Konfliktforschung ist es zu
verdanken, dass sich diese Perspektive gewandelt hat und Frauen
stattdessen als aktive Subjekte, die sich mit der erfahrenen
Gewalt aktiv auseinandersetzen, betrachtet werden. Die
stereotypisierenden Geschlechterkonstruktionen des weiblichen
Opfers und des männlichen Täters werden mit dieser Perspektive
jedoch nicht in Frage gestellt, sondern im Gegenteil, als solche
bestätigt. Um diese Konstruktionen zu hinterfragen bzw. zu
verhindern, dass sich neue stereotypisierende
Geschlechterkonstruktionen durchsetzen, bleibt vor allem die
empirische Erforschung lokaler Gewaltprozesse weiterhin von
besonderer Bedeutung.
Die vorliegende Publikation von Benedetta Faedi Duramy leistet
einen wichtigen Beitrag zu genau dieser Problematik. In Haiti, so
stellt die Professorin der Golden Gate School of Law in San
Francisco fest, lassen sich die Geschlechterkonstruktionen der
Opfer sexueller Gewalt nicht einfach bestätigen. In den Slums von
Haiti trifft die Autorin stattdessen auf Frauen, die sich aktiv
dazu entschließen, bewaffneten Gruppen beizutreten, und so selber
zu Täterinnen werden. Es geht der Autorin in ihrer Forschung daher
um die Beantwortung der Frage, welcher Zusammenhang zwischen der
erfahrenen sexuellen Gewalt, dem Beitritt in eine bewaffnete
Gruppe und dem Ausüben bewaffneter Gewalt besteht. Auf Grundlage
einer detaillierten Revision der Literatur zum Thema sowie ihrer
eigenen empirischen Studie identifiziert Faedi Duramy drei
Faktoren, die die Frauen zu dieser Entscheidung motivieren: das
Bedürfnis, sich selbst und ihre Familien zu schützen, der Unmut
über die Vernachlässigung und Nichtanerkennung durch staatliche
Institutionen und zuletzt der Wunsch nach persönlicher und
sozialer Anerkennung durch Vergeltung.
In insgesamt sieben Kapiteln stellt Faedi Duramy die Ergebnisse
ihrer qualitativen Langzeitstudie vor, die sie hauptsächlich
zwischen 2006 und 2008 in den drei größten Städten Haitis
Port-au-Prince, Cap-Haitien und Gonaives durchgeführt hat. Faedi
Duramys Forschung zeichnet sich aus durch eine aufwändige
ethnographische Methode bestehend aus Tiefeninterviews,
Fokusgruppen, Expert_inneninterviews mit Angehörigen
internationaler NGOs und der haitianischen Regierung sowie
teilnehmenden Beobachtungen.
Um den/die Leser_in den Forschungskontext einzuführen, entscheidet sich die Autorin für einen sozialhistorischen Ansatz, mit dem sie im 1. Kapitel die sexuelle Gewalt gegen Frauen und die Partizipation von Frauen bei der Anwendung bewaffneter Gewalt in Haiti kontextualisiert. Sie identifiziert Sklaverei, wirtschaftliche Ausgrenzung und politische Instabilität seit der Kolonialzeit als entscheidende Faktoren für die heutigen Muster geschlechtsspezifischer Gewalt und ebenso als Beweggründe für die Frauen, sich bewaffneten Gruppen anzuschließen (18). Der nachfolgende Blick der Autorin auf die heutigen haitianischen Weiblichkeits- und Männlichkeitskonstruktionen macht nicht nur deutlich, dass sich diese ungleichen Machtverhältnisse in der gesellschaftlichen Ausgrenzung und Ausbeutung der Frauen in Haiti weiter fortsetzen. Darüberhinaus demaskiert die Autorin diese Konstruktionen als Grundlage und gleichzeitige Rechtfertigung der Normalisierung und der gesellschaftlichen Akzeptanz von Gewalt gegen Frauen im privaten und im öffentlichen Raum.
Der gesetzliche Rahmen zur Prävention und Ahndung von
Diskriminierung und sexueller Gewalt gegen Frauen auf
internationaler und nationaler Ebene ist Gegenstand des 4. und 5.
Kapitels. Die aktuell existierenden Instrumente bieten zwar, so
Faedi Duramy, eine theoretische Möglichkeit, Frauen vor
genderbasierter Gewalt zu schützen und ihre Beteiligung bei der
Anwendung bewaffneter Gewalt zu beeinflussen (78). Allerdings,
kritisiert die Autorin, werden die lokalen Herausforderungen,
denen sich die Opfer sexueller Gewalt auf der Suche nach
Unterstützung stellen müssen, in diesen Instrumenten nicht
berücksichtigt. Bei der Auswertung der Interviews wird deutlich,
dass die Frauen nur in seltenen Fällen Hilfe bei staatlichen
Institutionen suchen oder sich gar dazu entschließen, die
Übergriffe anzuzeigen. Dies führt zu der Kritik der Autorin an der
haitianischen Strafverfolgung und Gesetzgebung: die fehlende
Dokumentation von Fällen sexueller Gewalt und die weit verbreitete
Straflosigkeit in Fällen sexueller Gewalt gegen Frauen sind eng
verbunden mit Ungleichheiten im Justizsystem, verinnerlichten
Geschlechterkonstruktionen und der Angst der Opfer, sozial
stigmatisiert zu werden.
In den letzten beiden Kapiteln setzt sich die Autorin kritisch mit
den existierenden Programmen internationaler und
zivilgesellschaftlicher Organisationen auseinander, deren
erklärtes Ziel die Reintegration der Opfer sexueller Gewalt und
weiblicher Gewaltakteurinnen in die haitianische Gesellschaft ist.
Am Beispiel der Situation nach dem Erdbeben von 2010 untermauert
die Autorin ihre Argumentation bezüglich der Notwendigkeit eines
lokalen Ansatzes bei der Gestaltung der Politiken. Die
verheerenden Folgen des Erdbebens verschärften die aufgrund ihrer
sozialen und ökonomischen Position sowieso schon schwierige
Situation der Frauen und Mädchen: Sexuelle Gewalt gegen Frauen und
Mädchen in den Flüchtlingscamps war keine Ausnahme, sondern
aufgrund wachsender Unsicherheit, der Präsenz illegaler Banden und
geflohener Häftlinge die Regel (140). Die Autorin schließt ihre
Analyse mit ganz konkreten an den lokalen Kontext angepassten
Empfehlungen, wie man der sexuellen Gewalt begegnen und den Schutz
der Frauen und Mädchen gewährleisten kann. Faedi Duramy spricht
sich für präventive juristische und politische Maßnahmen auf
lokaler Ebene aus, um sowohl den Schutz der Mädchen und Frauen vor
sexueller Gewalt zu verbessern, als auch besonders ihre aktive
Teilnahme an der gesellschaftlichen Entwicklung zu fördern.
Benedetta Faedi Duramy leistet mit der vorliegenden
Veröffentlichung einen wertvollen Beitrag zu dem wichtigen Thema
der Bedeutung von Geschlechterkonstruktionen im Kontext
bewaffneter Konflikte. Am empirischen Beispiel Haitis macht sie
deutlich, dass der stereotypisierende Ansatz, der darauf abzielt,
den Subjektstatus der betroffenen Frauen hervorzuheben, zu kurz
greift. Es ist stattdessen notwendig, auch die binären
Konstruktionen von Opfer vs. Täter zu hinterfragen, um die
Gewalterfahrungen der Frauen und ihre damit verbundenen
Entscheidungen sichtbar zu machen und in der Gestaltung der
Politiken zu berücksichtigen. Besonders herauszustellen ist neben
der ausführlichen empirischen Forschung die soziohistorische
Kontextualisierung, die die Autorin vornimmt. Einschränkend ist
diesbezüglich jedoch zu bemerken, dass dieser Versuch überwiegend
sehr deskriptiv verläuft, und die hohe Anzahl quantitativer
Argumente dazu führt, dass die Analyse zum Teil selber in
Stereotypisierungen verhaftet bleibt.
In Bezug auf die zitierten Quellen überrascht deren unkritische
Verwendung. Die Autorin zitiert mehrfach Berichte der MINUSTAH
(United Nations Stabilization Mission in Haiti), Amnesty
International und anderer internationaler NGOs, ohne deren Mandate
zu hinterfragen. Gerade im Fall von Haiti gab es wiederholte
Anklagen gegen Mitglieder der UN-Mission in Haiti wegen sexueller
Ausbeutung und sexuellem Missbrauchs von Frauen und Minderjährigen
(Martin 2005). Vor diesem Hintergrund wäre eine kritischere
Auseinandersetzung der Autorin mit der Rolle Internationaler
Organisationen in Haiti und ihrer Bedeutung für den Erhalt der
ungleichen Geschlechterverhältnisse und der damit verbundenen
Gewalt unbedingt notwendig gewesen.
Trotz dieser Einschränkungen ist die Veröffentlichung
interessierten Sozialwissenschaftler_innen, die sich mit den
Interrelationen von Gewalt und Geschlechterkonstruktionen
beschäftigen, ausdrücklich zu empfehlen.
Literatur:
Martin, Sarah (2005): Must Boys be Boys? Ending Sexual Exploitation & Abuse in UN Peacekeeping Missions, London: Refugees International.