Jean Comaroff and John Comaroff (2012)

Theories from the South. Or, How Euro-America is Evolving Toward Africa


Boulder und London: Paradigm Publishers, 261 S.

 

Rezensiert von Frank Müller

desiguALdades.net, Freie Universität Berlin



Als Anthropologen aus Südafrika haben die beiden Autoren Jean und John Comaroff die Mehrheit ihrer Publikationen gemeinsam erarbeitet. Zuletzt erschien von den an der University of Chicago lehrenden Professoren mit „Ethnicity, Inc.“ (Chicago Press 2009) ein Essay mit einer richtungsweisenden Pointe: Die Vermarktung von Ethnizität als kulturelles Kapital in Ländern Afrikas zeigt eine ‚globale‘ Tendenz auf. Obwohl das zentrale Narrativ – der Süden ist Vorreiter der Globalisierung – darin bereits durchscheint, wird das Argument erst mit Theories from the South explizit gemacht und auf weitere gesellschaftspolitische Bereiche übertragen.

 

Der 2012 erschienene Sammelband1 fasst die Hauptthemen aus Comaroffs Forschungsarbeit der letzten 20 Jahre zusammen. Die Essays wurden, abgesehen von einem, in ähnlicher Version bereits veröffentlicht. Die Publikation bietet daher inhaltlich wenig Neues. Vielmehr bemüht sie sich um eine strategische Akzentuierung der Denkposition der Comaroffs. Mit ihren Essays beabsichtigen sie, die Theoriebildung aus der westlichen bzw. nördlichen Universität zu de- und im Süden zu re-zentrieren. Im ersten Kapitel („Theories from the South“) konzeptualisieren die Comaroffs ‚den Süden‘ als eine relationale, soziale Kategorie: Konstruiert in historisch gewachsenen, transregionalen Beziehungen in einer durch den Norden dominierten globalen Weltordnung, wird der Süden als Denkort verstanden, der das „Verfremden des Gewohnten“2 (19) ermöglicht.

 

Ihre Sozialanthropologie, die sich theoretisch in einer Linie mit Spivak, Bhabha und Mbembe und empirisch im südlichen Afrika verortet, will die Entwicklung von „Euro-Amerika“ vorhersehen. Anders als Global International Relations (entsprechend dem richtungsweisenden Titel der nächsten International Studies Association [ISA] Konferenz), die Perspektiven aus dem Süden in den Kanon der Theoriebildung integrieren will, und im Gegensatz zu dekolonialen Ansätzen, die eine strategische Andersheit nicht-okzidentaler Regionen proklamieren, soll der „Norden im Süden und der Süden im Norden“3 (46) gesucht werden. Ähnlich dem Ansatz der „Verwobenen Moderne“ (Shalini Randeria) werden soziale, politische und ökonomische Phänomene nicht als an einem Ort, sondern als in Austauschprozessen entstanden betrachtet. Anthropologie aus Afrika, so der Beitrag der Comaroffs über die verwobene Moderne hinaus, könne zukünftige Entwicklungen in Euro-Amerika erklären und vorhersehbar machen.

 

Dieses zentrale Narrativ wird nachfolgend jedoch häufig vergessen – es scheint, als versuche das zuletzt geschriebene Theoriekapitel (2011) einen Koffer im Sinne der travelling theory zu packen, den der Sammelband dann aber nicht schließen kann. Das Resultat ist, dass die Comaroffs eine spezifische Differenz afrikanischer postkolonialer Gesellschaften konstatieren und Afrika als neue Universalie stilisieren. Sie zeigen aber nicht auf konsistente Weise, wie Euro-Amerika sich in Richtung Afrika entwickelt.

 

Es folgen sieben Kapitel, die fundamentale Konzepte der Sozialwissenschaften (Person4,
Staatsbürgerschaft, Nationalstaatliche Souveränität, Demokratie, Geschichts-schreibung, Migration und Biopolitik) behandeln. Das empirische Material umfasst neben persönlichen Beobachtungen, Feldnotizen und Interviews auch anekdotische Beschreibungen, Reden, TV-Serien, NGO-Berichte und Zeitungsartikel. Ihre Feldforschungsnotizen aus den Gebieten der Tswana zitierend (Kapitel 2), stellen die Comaroffs deren Verständnis von Person als prozedurales Konstrukt vor. Die europäische Universalität einer Konzeption, welche laut den Comaroffs auf (juristisch) registriertem Eigentum beruht, soll hiermit verfremdet werden. Damit zeigen die Comaroffs zwar die verwobene Dimension und die historisch zu kontextualisierende Bedeutung eines liberalen Personenbegriffs, jedoch nicht, wie sich dieser nun „in Richtung Süden“ entwickelt oder mit welchen inner-euro-amerikanischen Widersprüchen er einhergeht.

 

In Kapitel 3 dezentrieren die Autoren eine „westliche“ Konzeption des Nationalstaats. Südafrika dient als Beispiel für die Spannung zwischen der ideologischen Annahme nationaler Identität und sozio-ethnischer und -ökonomischer Ungleichheit in postkolonialen Gesellschaften. Richtungsweisend schließen sie, dass auch die Nationen Euro-Amerikas als historische Migrationsgesellschaften zu Konstrukten werden, die ihre Voraussetzung einer homogenen Nationalkultur nicht garantieren können. In Kapitel 4 (zu Nationalstaatlichkeit und Zugehörigkeit) zeigt sich die Problematik dieser Argumentation. Die Entstehung von Enklaven nicht-staatlicher Gewaltakteure, industrieller Produktion oder religiöser Gemeinschaften in Südafrika dienen der empirischen Unterfütterung einer Kritik am euro-amerikanischen Konstrukt des homogenen Nationalstaats. Problematisch ist an diesem Kapitel nicht nur, dass mit Carl Schmitt ein europäischer Denker, der grundlegend für die Idee der Notwendigkeit kultureller Homogenität für Nationalstaaten ist, ungefiltert herangezogen wird. Darüber hinaus behaupten die Autoren, dass die gesellschaftliche und politische Ausgrenzung migrantischer Subjekte in den euro-amerikanischen Gesellschaften seit den 1990er Jahren die postkoloniale Situation „nachholt“5 (106). Diese Vereinfachung, mit der die Comaroffs von der vormaligen Existenz eines homogenen Nationalstaats (im Norden) auszugehen scheinen, übersieht u. a. die historischen Formen von ethno-räumlicher Segregation durch z. B. Ghettos und Konzentrationslager, welche die Geschichte des globalen Nordens charakterisieren.

 

Im fünften Essay zeigen die Comaroffs die Vorteile des Einparteiensystem Botswanas und seiner partizipativen Elemente in zwischen-elektoralen Entscheidungsprozessen – gegenüber einer sich in Wahlen erfüllenden Demokratie (ihr Beispiel sind die USA) – auf. Hier, wie auch in Kapitel 6, fehlt der dem argumentativen Faden folgende Rückschluss eines sich in den Tendenzen des Südens verwirklichenden Nordens: Die Comaroffs versäumen es zu zeigen, in welcher Weise die methodische und politische Unterscheidung von Historizität und Erinnerung in Friedensbildungsprozessen auch für den globalen Norden relevant ist. Im Sinne eines differenzierten Begriffs vom Süden wäre es zudem hilfreich, ihre Analyse mit Prozessen der Rekonziliation in Lateinamerika (etwa in Guatemala und Kolumbien) und partizipativer Demokratieformen (etwa in Venezuela) in relationale Beziehung zu setzen.

 

Auch die letzten beiden Kapitel tragen nicht zum angekündigten Argument bei. Beim Thema Aids und Biopolitik (Kapitel 8) zeigen die Comaroffs zwar, wie Agambens Staats-fixierter Begriff der Biopolitik um gesellschaftliche Akteure erweitert werden muss – um etwa die soziale Mobilisierung rund um Aidskampagnen in Südafrika als Kämpfe „um die Differenzierung von Leben und Tod“6 (98) verstehen zu können. Jedoch halten die Comaroffs auch hier eine Dualität zwischen Norden und Süden aufrecht und zeigen nicht, in welcher Weise sich die Aidspolitik des Nordens „nachholend“ entwickelt.

 

Zu den Stärken des Buches zählt, neben den detaillierten, anthropologischen Analysen, das Potential der Denkbewegung der Comaroffs: Vom Denkort Süden ausgehend, eröffnet ihr Ansatz innovative Fragestellungen für eine Wissensproduktion aus transregionaler Perspektive. Es fehlt aber eine Reflexion auf das Verhältnis Afrikas zum „Globalen Süden“. Angesichts der letzten Finanzkrise könnte Lateinamerika als Vorreiter für Entwicklungen im Norden gesehen werden. Hierfür müsste der Süden stärker differenziert werden. Letztlich bleibt also der Dualismus zwischen Süden und Norden, welcher z. B. bezüglich Ost-West-Beziehungen differenzierter zu betrachten ist, intakt. Trotzdem ist das Buch SozialwissenschaftlerInnen jenseits eines regionalen Schwerpunkts auf Afrika zu empfehlen, die einen theoretisch vielschichtigen und empirisch reichen Beitrag zur Debatte um globale Ungleichheiten in der Wissens- und Theorieproduktion erwarten. Darüber hinaus regt das Buch Forschungsperspektiven auf Süd-Süd-Beziehungen (z. B. humanitäre, friedenssichernde und wirtschaftliche Kooperation) an, sowie innovative Forschungsansätze, die den Süden im Norden untersuchen.

 

1 Deutsche Ausgabe: Der Süden als Vorreiter der Globalisierung: Neue postkoloniale Perspektiven. Jean and John Comaroff,Frankfurt a. M.: Campus. Diese Rezension bespricht die englische Ausgabe

2 „to make settled things strange“.

3 „there is much south in the north, much north in the south“.

4 „Personhood“, in der deutschen Ausgabe „Person“.

5 „postcolonies are … prefigurations of what is becoming visible elsewhere“.

6 „difference between life and death“.