Hans-Christian Petersen (Hrsg.) (2013)

Spaces of the Poor. Perspectives of Cultural Sciences on Urban Slum Areas and Their Inhabitants

Bielefeld: transcript-Verlag, 239 S.


Rezensiert von Frank Müller

desiguALdades.net, Freie Universität Berlin


Armutsforschung in den urbanen Peripherien Lateinamerikas ist ein seit Jahrzehnten etabliertes interdisziplinäres Feld, wenn auch mit einem starken Akzent auf Megastädten wie Mexiko-Stadt, Lima, São Paulo oder Buenos Aires. Armut, Ungleichheit und (urbaner) Raum sowie Urbanisierungsprozesse werden hier in ihrer globalen und interdependenten Verflechtung gedacht (Cordera et al. 2008). Dass sich in diesen stark urbanisierenden Regionen die oft jenseits staatlicher Planung wachsenden colonias populares, favelas bzw. villas miserias trotz und entgegen ihrer Marginalisierung (Perlman 1976) als Räume des empowerment oder Widerstands (Zibechi 2011) entwickeln, ist weitläufig anerkannt. Trotzdem bleibt die Erforschung „ganz gewöhnlicher“ (Robinson 2006), und explizit auch kleinerer und mittelgroßer Städte, eine wichtige Aufgabe, um dem Vorurteil, Räume der Armut seien eine Abweichung von „gesunder“ Stadtentwicklung (Angotti 2013), entgegenzuwirken.


Mit seiner geographischen Vielfalt weckt der Konferenzband Spaces of the Poor, herausgegeben von Hans-Christian Petersen in der Reihe „Mainz Historical Cultural Sciences“, die Hoffnung, in diese Richtung zu intervenieren. Die Beiträge wurden größtenteils im Rahmen der Tagung „Looking Behind the Facade of the Ghetto. Perspectives of Cultural Sciences on Urban Slum Areas and Their Inhabitants“ diskutiert. Das Erkenntnisinteresse jener Tagung bestand in der Ausdifferenzierung der, so wird behauptet, homogenisierenden und entsubjektivierenden Sichtweisen auf urbane Armut in den Sozial- und Geisteswissenschaften.


Ein solches Interesse kann für eine Ent-Stigmatisierung der Städte Zentralamerikas sowohl konzeptionelle als auch methodische Beiträge liefern. Ein transregionaler Wissensaustausch über verschiedene Lebenswelten bedarf einer intensiven Reflektion über die verwendeten analytischen Begriffe – im vorliegenden Fall „slum“, „Ghetto“ und Armut. Diese wird im besprochenen Buch nur in Bezug auf die ersten beiden Kategorien theoretisch geleistet, der Bezug zu Armut bleibt im Wesentlichen implizit. Die Erkenntnisse der Fallstudien fließen nicht zurück in eine gemeinsame theoretische Diskussion. Die Textsammlung bietet aber neun Antworten auf Spivaks berühmte Frage, ob die Subalterne sprechen könne, und geht ihr an Beispielen der Raumproduktion bzw. -aneignung nach.


Mit der Suche nach den Stimmen im Diskurs historischer und aktueller urbaner Armut wird eine normative Absicht umgesetzt. Subjektivierungsprozesse sollen durch ihre Erforschung gestärkt werden. Eine solche diskursive Intervention, so bemerkt Petersen zu Beginn, sei auch über die wissenschaftliche Forschung hinaus von Bedeutung. Schon die Verwendung der Begriffe „slum“ oder „Ghetto“ reproduziere die Stigmatisierung solcher Räume und ihrer Bewohner_innen. Hieraus resultiert für Petersen die Relevanz der Tagung und der Publikation: Es ist die simplifizierende Verwendung in Stadtplanung und Wissenschaft, die eine kritisch-differenzierende Betrachtung der Lebensweisen, Problematiken und Prozesse der Verräumlichung von Armut erfordere.


Auf die Einleitung folgt Wacquants Durchgang durch historische Formen des Ghettos – von den USA zum Nationalsozialismus. Er kritisiert nicht nur die umgangssprachliche Abnutzung des „Ghetto“-Begriffs zu einem deskriptiven, stigmatisierenden Kampf- und Exklusionsbegriff. Darüber hinaus entwickelt er auch eine analytische Typologie zur Untersuchung von ethno-räumlicher Exklusion. Leider werden weder Petersens noch Wacquants Überlegungen zur Typologie der Verräumlichung von Armut und sozial-ökonomischer Exklusion in den Fallstudien aufgenommen. Unkommentiert bleibt auch, dass in Wacquants „slum-“ und „Ghetto“-Definition, und im Gegensatz zum Anspruch des Herausgebers, von Subjektivierung und empowerment nicht die Rede ist.


Die Studien zu St. Petersburg, Moskau, London, Delhi, Wien, San José und Hamburg stellen reichhaltiges Material zur Diskussion, das sich zeitlich vom Fin de Siècle (Maderthaner zu Wien) bis zur Gentrifizierung im Moskau des 21. Jahrhunderts (Röttjer und Kusber) aufspannt. Die Texte sind nicht weiter thematisch untergliedert. Der Band setzt mit vier Texten einen Schwerpunkt auf Städte in Russland. Methoden-kritische Überlegungen werden vornehmlich durch die historischen Arbeiten geleistet: Indem der Schwerpunkt auf Alltagspraktiken und damit auf der Aufarbeitung der heterogenen Lebensweisen und Stimmen der Armen gelegt wird, ist die Materialbeschaffung und Quellenlage selbst ein diskurs-analytisch zu reflektierendes Problem, wie Gerasimov, Petersen, und Steinberg an ihren Arbeiten in Archiven in russischen Städten belegen: Armut zeigt sich in historischer Rückschau gerade darin, dass sie kaum Subjekte nachhaltiger öffentlicher Diskurse hervorbringt. Der selbstkritischen Frage, inwiefern die eigene Forschung zu einem stellvertretenden Sprechen wird und ob geschichtswissenschaftliche Ansätze hinter die dominante, durch textuelle Repräsentation geschaffene „Fassade“ (Petersen, 91) blicken kann, begegnen die Autoren mit der Erforschung der Weise wie konkrete Orte von den städtischen Marginalisierten angeeignet wurden. Ähnlichen Fragen zum Verhältnis von textueller Repräsentation und Raum stellt sich auch „Creating the City of Delhi“ (Wengoborski und Singh, 147ff.), das hegemoniale Planung inklusive „slum“-Räumungen und literarische Repräsentation der Stimmen von marginalisierten Frauen gegenüberstellt.


Methodisch innovativ ist die Subjektivierung und Raumproduktion von Armut im einzigen Beitrag zu zentralamerikanischen Städten. Rolf untersucht Solidaritätsnetzwerke von MigrantInnen mit Hilfe einer multi-sited ethnography. Interessant ist dieser Beitrag insofern, als er, wenn auch nicht explizit, Armut zwar an prekären Staatsbürgerschafts- und Arbeitsstandards der nicaraguanischen MigrantInnen im urbanen Costa Rica festmacht, jedoch nicht auf ökonomische Kriterien reduziert. Damit zeigt Rolf, wie in diesen durch Parteiwahlkampf, Kleinhandel und kulturelle Festivitäten transnationalisierten Räumen das soziale und kulturelle Potential von Netzwerken zur Etablierung und Aneignung von Innenperspektiven auf die Stadt dienen kann.


Die Untersuchung von Armut in Spaces of the Poor bleibt auf der empirischen und methodisch-reflexiven Ebene – wir lernen, was es heißt in St. Petersburg zu Anfang des 19. Jahrhunderts arm zu sein, und was es in San José, Costa Rica, heute bedeutet, jedoch erfahren wir wenig über den Stellenwert von Räumen der Armut für Prozesse der Globalisierung, der Wanderung von Kapital und global zirkulierenden Konzepten der Stadtaufwertung, oder der Kommodifizierung und kulturellen Diversifizierung. Durch intensivere Überarbeitung der Konferenzbeiträge hätte die Frage nach den globalen Entstehungs- und Reproduktionsbedingungen dieser Räume ebenso beantwortet werden können wie auch die Frage nach der Anwendbarkeit einer begrifflichen Typologie für derart heterogene lokale Kontexte. Stattdessen fällt die analytisch unscharfe Verwendung oder gar Gleichsetzung der Begriffe „slum“, „informelle Siedlung“ oder illegaler „squat“, die sich durch die Artikel zieht, negativ auf.


Dass Armut keine spezifische Eigenschaft von Städten des Südens ist, sondern – in sehr heterogenen Lebenswelten und als Ergebnis globaler Prozesse – in allen Städten der Welt beobachtet werden kann, ist eine Grundannahme transregionaler, vergleichender Forschung.


Die lokalen Effekte und Reproduktionsräume solcher globalen Prozesse zu verstehen setzt voraus, so kann Jennifer Robinsons Ruf (2006) nach einem Neudenken unserer Wissensgeographie interpretiert werden, dass scheinbar unvergleichbar unterschiedliche Räume der Armut wie Hamburg-Ottensen und das Zentrum von Guatemala-Stadt in Beziehung gesetzt werden müssen. Der vorliegende Band geht diesen methodologischen Schritt leider nicht. Das Ergebnis ist, dass Spaces of the Poor zwar interessante Einsichten über die lebensweltliche Komplexität von Armut sowie gute Überlegungen zu Methoden der Armutsforschung liefert und zu ihrer Übertragung auf andere Kontexte motiviert. Eine stärker explizite Diskussion der (un)möglichen Anschlussstellen vergleichender Armutsforschung allerdings wäre für Interessierte an transregionalen Studien, auch und insbesondere in Latein- und Zentralamerika, wünschenswert gewesen.



Bibliografie


Angotti, Tom (2013): The New Century of the Metropolis: Urban Enclaves and Orientalism. New York: Taylor & Francis.


Cordera, Rolando, Ramírez Kuri, Patricia, und Alicia Ziccardi (2008): Pobreza, desigualdad y exclusión social en la ciudad del siglo XXI. Mexiko-Stadt: Siglo XXI Editores.


Perlman, Janice E. (1976): The Myth of Marginality. Berkeley, CA: University of California Press.


Robinson, Jennifer (2006): Ordinary Cities: Between Modernity and Development. New York and London: Routledge.


Zibechi, Raúl (2011): Territorien des Widerstands. Eine politische Kartografie der urbanen Peripherie Lateinamerikas. Berlin und Hamburg: Assoziation A.