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Luis Jorge Garay Salamanca, Eduardo Salcedo-Albarán (Hrsg.) (2012) Nacotráfico, corrupción y Estados. Cómo las redes ilícitas han reconfigurado las instituciones en Colombia, Guatemala y México Mexiko-Stadt: Debate, 355 S. |
Rezensiert von Birte Keller
ZI Lateinamerika-Institut, Freie Universität Berlin
Im Kontext aktueller Debatten über die Diversifizierung bzw. Transnationalisierung von Drogennetzwerken sowie über Lösungsansätze zur Bekämpfung derselben, analysiert der Sammelband Narcotráfico, corrupción y Estados den Aufbau und die Arbeitsweise kolumbianischer, mexikanischer und guatemaltekischer illegaler Netzwerke mit besonderem Augenmerk auf deren Vereinnahmung staatlicher Institutionen. Der Ökonom Eduardo Salcedo-Albarán und der Philosoph Luis Jorge Garay Salamanca, die in der interdisziplinären Institution Vortex Policy-Konzepte für soziale Herausforderungen wie die Drogenkriminalität erarbeiten, präsentieren in Kooperation mit mexikanischen, kolumbianischen und guatemaltekischen Autor_innen aus dem journalistischen und sozialwissenschaftlichen Feld in ihrem siebenteiligen Buch eine umfassende Studie, die sozialwissenschaftliche Konzepte der Netzwerkforschung sinnvoll erweitert.
In Anlehnung an Autoren wie Morselli (39) ermitteln Salcedo-Albarán und Garay Salamanca mittels der „sozialen Netzwerkanalyse“1 illegaler Netzwerke des Drogenhandels die Zentralität der involvierten Akteure auf Basis von Prozessunterlagen und Zeugenaussagen. Dabei vermag die methodische Erweiterung des Konzepts durch den Fokus auf die institutionelle Stellung der involvierten staatlichen Akteure, genannt „Analyse sozialer Netzwerke zur institutionellen Diagnose“2, sowohl die Strukturen der illegalen Netzwerke und Handlungsmuster der involvierten Akteure als auch die Vereinnahmung staatlicher Institutionen aufzuzeigen. Neben der Ermittlung der betroffensten Institutionen der letzten Jahre ist die Erkenntnis, dass sich in diesem Kontext trotz im Wandel begriffener Institutionen und Netzwerke teilweise langfristige Bündnisse zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren etablieren, herausragend.
Da die Autor_innen davon überzeugt sind, dass die Infiltration staatlicher Institutionen durch illegale Netzwerke ein soziales Phänomen ist, dessen vielfältige Gründe und Konsequenzen miteinander verwoben sind, und dass „einseitige Analysen [solch komplexer Phänomene] immer Erklärungsmodelle hervorbringen, deren Reichweite beschränkt ist, was das Erklären und Verbessern der sozialen Realität betrifft“3, wird die quantitative Netzwerkanalyse der Herausgeber durch qualitative historische, politikwissenschaftliche und journalistische Arbeiten ergänzt. Dabei wird auf die Methode des Extended Case zurückgegriffen, um von untersuchten Einzelfällen auf allgemeine Muster und Strukturen zu schließen und somit der Mikroebene zuzuordnende Informationen als Analysegrundlage für Untersuchungen auf der Makroebene anzuwenden.
Im ersten Teil führen die Herausgeber Konzepte fortgeschrittener Korruption ein, die fundamental für ihre Netzwerkanalyse sind. Zum einen erweitern sie das von Hellman und Kaufmann geprägte Konzept der „Vereinnahmung des Staates“4, welches die Einflussnahme privater Akteure auf politische Entscheidungen zur Durchsetzung eigener Interessen beschreibt (35), um die Erkenntnis, dass diese ursprünglich neutralen Akteure dem illegalen Milieu angehören. Zum anderen präsentieren sie einen Prozess, der in Situationen fortgeschrittener und komplexer Korruption auftritt: Bei der „Kooptierten Umgestaltung des Staates“5 gehen Staatsfunktionäre und legale oder illegale private Akteure langfristige Bündnisse ein, wobei die staatlichen Akteure aus dem Inneren des Staatsapparats Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen und so die Institutionen umgestalten, um langfristige Ziele ökonomischer, politischer oder juristischer Natur zu erreichen und illegalen Akteuren soziale Legitimität zu verschaffen.
Vor diesem theoretischen Hintergrund werden in dem vier Sektionen umfassenden empirischen Kernstück des Buchs illegale Netzwerke sowie zentrale Akteure aus den drei Untersuchungsländern und deren Besonderheiten bzw. Gemeinsamkeiten vorgestellt. Die Analyse der Netzwerke zeigt, dass sich die Möglichkeit, staatliche Institutionen zu vereinnahmen, im Falle des guatemaltekischen Netzwerkes aufgrund der Porosität demokratischer Institutionen und dysfunktionaler Präventivmechanismen auf der Nationalebene bietet. Das guatemaltekische Netzwerk, dessen Handlungsgrundlage auf politischen und administrativen Abkommen zwischen illegalen Akteuren, Bankern und hochrangigen Politikern um den Ex-Präsidenten Portillo basiert, bedient sich einer top-down-Strategie, um seinen Einfluss von der nationalen auf die lokale Ebene auszuweiten (150). Die Akteure der mexikanischen und kolumbianischen Netzwerke hingegen manipulieren die schwachen lokalen Institutionen, die im Zuge verfehlter Dezentralisierungspolitiken und unzureichender Kontrollmechanismen weitestgehend autonom agieren. So haben sich die Mitglieder des analysierten kolumbianischen Netzwerks in Soledad durch mittel- und langfristige Bündnisse mit Lokalpolitikern das Ziel gesetzt, politische Entscheidungen der Nationalebene zu manipulieren, und auch die Angehörigen des mexikanischen Netzwerks La Familia Michoacana verfolgen eine bottom-up-Strategie, indem sie durch politische Abkommen auf regionaler Ebene nach Einfluss auf die Bundespolitik streben (289).
Teil sechs widmet sich einigen laut den Herausgebern neuen Eigenschaften der analysierten Drogennetzwerke, welche ein Umdenken in der Antidrogenpolitik erforderlich machen: Anhand der Familia Michoacana wird ein neuer Typus von illegalen Netzwerken beschrieben, welcher horizontaler, dynamischer und transnationaler operiert und durch die Diversifizierung seines Tätigkeitsfelds immer mehr soziale Räume einnimmt (300). Die Schlussfolgerung ergibt, dass Politiken, die nur auf die Drogenproblematik abzielen oder auf den nationalstaatlichen Rahmen beschränkt sind, unwirksam sind.
Daran anschließend präsentieren die Herausgeber im letzten Teil Lösungsansätze (311-342), um dem analysierten Phänomen transnational agierender Netzwerke gegenüberzutreten. Während die kurzfristigen Vorschläge auf eine professionellere, koordiniertere und transparentere transnationale Strafverfolgung insbesondere im Finanzsektor abzielen, ist die hinsichtlich einer langfristigen Perspektive dezidierte Intention der Herausgeber, durch strukturelle Veränderungen Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, soziale Gerechtigkeit und die Stärkung der Zivilgesellschaft zu garantieren.
Zusammenfassend kommt das Buch seinem interdisziplinären Anspruch nicht ganz nach: Auch wenn die Akteursebene durch die Miteinbeziehung des institutionellen Fokus sinnvoll erweitert wurde und die qualitativen Arbeiten wichtige Hintergrundinformationen liefern, wäre es interessant gewesen, ökonomische und soziale strukturelle Problematiken, die den Nährboden für den Erfolg illegaler Netzwerke bieten können, zu berücksichtigen. Da sich der Akteursfokus ausschließlich auf die Schlüsselfiguren der Netzwerke bezieht, kann das Phänomen der Massenrekrutierung vornehmlich junger Mitglieder nicht erklärt werden. Nichtsdestotrotz handelt es sich um eine umfassende Analyse eines hochaktuellen Phänomens, welche eine wichtige Basis für die Entwicklung politischer Strategien bietet. Da die Arbeit abgesehen von der Anwendung bzw. Erweiterung gängiger Konzepte der Netzwerkforschung wenige Vorkenntnisse erfordert, eignet sie sich auch als Lektüre für Fachfremde. In der Gesamtheit haben die Autoren trotz vielfältiger Methodik und trotz des Detailreichtums eine verständliche Studie lateinamerikanischer illegaler Netzwerke erstellt, die insbesondere Auskunft über deren Einfluss auf staatliche Institutionen gibt und auch für eine vergleichende Analyse illegaler Netzwerke in anderen Regionen der Welt hilfreich sein kann.
1 „Análisis de Redes Sociales“ (39)
2 „Análisis de Redes Sociales para Diagnóstico Institucional“ (47)
3 „(…) los análisis parciales, (…) siempre proveerán modelos explicativos con alcances restringidos […] al intentar explicar y mejorar la realidad social (334-335).“
4 „Captura del Estado“ (35)
5 „Reconfiguración Cooptada del Estado“ (36)